Fünfundvierzig

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Mit einem lauten Räuspern blickt eine Gestalt nicht weit von uns entfernt auf den geringen Abstand zwischen Lucien und mir.

Auf Luciens Gesicht breitet sich ein breites, anzügliches Grinsen aus, während eine seiner Hände über meine Taille fährt. Schnaubend stoße ich ihn ein Stück von mir - leider nicht halb so heftig, wie ich es vorgehabt habe. Stumm verfluche ich meine zitternden Hände.

Die Gestalt trägt einen ausladenden, schneeweißen Umhang mit Goldstickerei. Für einen Moment habe ich das Gefühl, mein Herz bleibt stehen. Ich kenne den Umhang. Bei der schweren Kapuze kann ich jedoch das Gesicht des Trägers nicht erkennen. Mit klopfendem Herzen betrachte ich die Statur der Gestalt - und verspüre einen vagen Stich, als ich erkenne, dass es eine Frau ist und kein Mann. Nicht du bist es, der zurückgekommen ist zu mir, Ice. Nicht du.

Aber jemand anderes.

In einer einzigen, fließenden Bewegung reißt sie die Kapuze nach hinten und warmes Sonnenlicht fällt auf ihre gewöhnlichen, roten, gelockten Haare, bricht sich in ihren wunderschönen, grasgrünen Augen. Eben noch steht sie vor uns. In der nächsten Sekunde wirft sie sich mir entgegen und reißt mich mit einer stürmischen Umarmung zu Boden.

Ich weiß gar nicht, wie ich reagieren soll. Die Situation überfordert mich. Dieses Mädchen... Ich kenne sie. Aber ihr Name... Wie lautet ihr...

Freedom.

Es ist wie ein Glockenläuten, wie eine strahlende Kerzenflamme, die in mir erwacht. Freedom. Freedom. Freedom.

Ich erinnere mich. Freya ist ihr eigentlicher Name - Freedom der Spitzname, den sie von mir erhalten hat. Mein Beweis der Freiheit. Mein Symbol. Meine Freundin. Die mich hasserfüllt von sich gestoßen hat, nachdem sie erfahren hat, wer und was ich bin. Weil du unter Anderem mitverantwortlich für den Tod ihrer Mutter warst, Ice.

Mir wird warm ums Herz, während ich sanft die Arme um Freedom lege, die stumm an meiner Schulter schluchzt. Lucien verdreht zwar die Augen, lächelt aber liebevoll.

"Ich habe ihr schon so oft gesagt, dass sie nicht so weit draußen patrouillieren soll, vor allem nicht in dem Aufzug, aber sie hört ja nicht auf mich", ertönt eine amüsierte Stimme. Dort, wo wenige Augenblicke zuvor noch Freedom gestanden hat, steht nun Cheri und lehnt an einem Baum.

"Kein Wunder, bei der Person, die sie sich zum Vorbild gemacht hat", grinst Lucien mich vorwurfsvoll an und vergräbt die Hände in den Hosentaschen. 

Cheri grinst Lucien ebenfalls an. Zeitgleich steht Freedom auf, wischt sich über das Gesicht und reicht mir grinsend ihre andere Hand, während ihr verwischte Tränen über die Wangen laufen.

Dann trifft Cheris Blick auf meinen und nicht der geringste Vorwurf glänzt in ihrem liebevollen Blick, als sie sagt: "Willkommen Zuhause, Snow."

Meine Hände zittern nicht, als ich mir von Freedom aufhelfen lasse und sie fest meine Hand drückt - ein stummes Versprechen.

Ich stoße dich nicht noch einmal von mir. Ich lasse nicht zu, dass man uns noch einmal voneinander trennt.

Burning IceWo Geschichten leben. Entdecke jetzt