Neunundzwanzig

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["Nun gut, wenn du auf die Rolle bestehst, die Verlobte meines Sohnes zu sein... dann sollten wir auch sicher gehen, dass du in der Lage bist, seine Geheimnisse für dich zu behalten. Gleich morgen werden wir dein Durchhaltevermögen testen und dann sehen wir ja, Prinzessin, wie viel von deiner Frechheit überlebt."]

Ich sehe den Flur kaum, als ich aus dem Zimmer heraustrete. Cheri wartet davor, ein mitleidiges Funkeln in ihren Augen. Sie hat jedes Wort gehört. Jedes. Verdammte. Wort. Stumm begleitet sie mich durch die Flure bis zu meinem Zimmer.

Von Lucien keine Spur - kein Hinweis, dass er über die Pläne seines Vaters Bescheid weiß. Ohne ein Wort an Cheri stürme ich in mein Zimmer und sperre die Tür ab. Ich verbitte mir irgendeine Regung, während ich mit großen Schritten das Fenster erreiche und es aufreiße. Ohne zu warten, bis meine Eismacht eine Treppe geschmiedet hat, springe ich aus dem Fenster. Einfach so.

Ich spüre den Schmerz kaum, als ich auf dem Boden aufkomme. Sehe kaum die verdutzten Gesichter der Wachsoldaten, die zweifellos irgendwem Bescheid geben werden, dass ich weg bin. Ich stürme einfach in den Wald, blind für die Welt.

Stürme bis zu dem magischen Ort. Dem Ort, an dem ich alleine sein kann. Oder zumindest so weit weg von allen Adeligen, wie es nur möglich ist. Ich kann ihre Gesichter nicht ertragen. Kann das Schloss nicht ertragen, die Enge eines Zimmers, und sei es auch noch so groß - konnte den Käfig nicht ertragen, in den man mich gesteckt hat. Den goldenen Käfig, den ich willig angenommen habe, in dem ich in meiner eigenen kleinen Welt zufrieden war.

Ich habe in den vergangenen drei Monaten kein einziges Mal an Ice gedacht. Daran, dass er noch immer unter Vaters Hand leidet.

Ich habe kein einziges Mal an das Mädchen gedacht, das meinen Platz eingenommen hat und an meiner statt als Druckmittel benutzt wird.

Ich habe kein einziges Mal an Freedom - Freya - gedacht. Seit ich sie in diesem Wagen zurückgelassen habe, habe ich keinen einzigen Gedanken an sie oder ihr Schicksal verschwendet. Habe mich nicht nach ihr erkundet. Weil ich zufrieden war, während man mir Honig ums Maul geschmiert hat.

Dumm. Ich war so dumm, so blind...

Stumme Tränen laufen mir über die Wangen, als ich stehen bleibe. Ein See. Ein Teich. Mitten im Wald. Nicht die Lichtung, nicht der Baumstumpf, nicht der Mondlichttreffpunkt. Ich will für mich sein. Brauche einen Moment für mich alleine.

Schluchzend setze ich mich ans Ufer und es ist mir egal, dass mein weißes Kleid schmutzig wird, dass es nass wird. Es ist mir egal.

Ich schlinge die Arme um meinen Körper und weine einfach, ungehemmt, laut und schmerzerfüllt. Ich habe die Tränen so lange zurückgehalten, so lange verdrängt. Du fehlst mir so, Ice. Ich habe den leisen Schmerz ignoriert, habe gedacht, er würde schon irgendwann verschwinden und alles würde gut werden, wenn ich mich nur an die Regeln halten würde...

Aber du leidest. Mit jedem Tag leidest du mehr. Ich bin gegangen. Habe dich zurückgeschickt, zurück zu ihm, und bin mit einem Fremden gegangen, einfach, weil er anders war. Weil er anders ist. Weil er anders ist als alles, was ich bis dahin gekannt habe. Ich habe dich verraten, Ice. Und ich habe es nicht einmal bereut. Habe die Augen vor der Wahrheit verschlossen. Es mag ja sein, dass ich gelitten habe und wohl Ruhe und Frieden verdient hätte, aber nur, weil ich Vaters Klauen entflohen bin, ändert das noch lange nicht deinen Zustand. Deinen - und den des Volkes. Des Volkes, das unter diesem sinnlosen Krieg leidet.

Ich werde nicht brechen, Ice. Ich werde nicht brechen. Ich werde zurückkehren - zurück nach Hause. Zu dir. Ich werde dafür sorgen, dass es nie wieder ein Kind gibt, das so zu Leiden hat, wie ich es musste. Ich werde Vater stürzen - denn das ist es auch, was Mutter gewollt hat. Tag für Tag haben uns die Bediensteten im Namen von Mutter gezeigt, was Vater tut, was er anrichtet. Damit wir ihn stürzen - gemeinsam. Ich werde nicht brechen. Ich werde zurückkehren. Ich werde nicht brechen.

Und in Andenken an die Mutter, die uns, dich und mich, Ice, in diese Welt gesetzt hat - in Andenken an sie werde ich singen. In so vieler Hinsicht.

Entschlossen wische ich die Tränen weg und beginne das Lied vom Anfang zu singen - das Lied meiner Kindheit. Das Lied meiner Mutter.

Burning IceWo Geschichten leben. Entdecke jetzt