Mit geschlossenen Augen lehne ich meinen Kopf gegen die Holzwand hinter mir. Außer dem Knarzen der Bretter, dem fernen Rauschen der Wellen und den Atemgeräuschen der Mädchen und mir herrscht Stille. Gelegentlich hört man eine der Ketten rasseln, mit denen wir alle an den Handgelenken an der Wand hinter uns gefesselt sind, aber das war es auch schon.
Wir alle sind einfach zu müde um ein Gespräch zu starten. Alle hängen wir unseren Gedanken nach: Ängste, wohin unser Weg uns führen wird, Verwünschungen, dass wir hier gelandet sind, Pläne, wie wir uns verhalten sollten um unser gemeinsames Ziel zu erreichen: die Freiheit.
Und dann gibt es da noch mich. Snow, die nichts besseres zu tun hat, als stumm einen Monolog mit ihrem Bruder zu führen, der sie ohnehin nicht hören kann. Aber ich sehne mich nun einmal nach deiner Berührung, Ice. Ich sehne mich nach deiner Stimme, nach deiner Art. Du bist immer für mich da gewesen, wenn ich eine Schulter zum Ausweinen brauchte, und umgekehrt genauso.
Ob du wohl einen Wutanfall hast, weil Vater mich klammheimlich verkauft hat? Weil er aus mir eine Sklavin machen möchte, da er keine Verwendung mehr in mir sieht? Ich bin das Werkzeug, das er nicht länger benötigt. Das Druckmittel, das seinen Zweck erfüllt hat, und nun fallen gelassen wird.
Denn nun hat er deine Freundin, Ice. Das Mädchen, dem du angeblich dein Herz geschenkt hast, obwohl du weißt, dass du sie damit in größte Gefahr bringst. Gut möglich, dass du ihr Untergang bist, Ice. Und dennoch hast du diese Last auf dich geladen. Weil Vater versprochen hat, dass er mich in Ruhe lässt, wenn du brav bist und ihm deine Freundin auslieferst, nicht wahr? Dabei hat Vater keine Ahnung von dem Spiel, das du spielst.
Gedankenverloren streiche ich über eine meiner sichtbaren Narben. Es ist eine Brandnarbe an meinem Unterarm, die er mir zugefügt hat. Weil du die hilflosen Gefangenen nicht hast abschlachten lassen, wie Vater es befohlen hat. Um dir die größten Schmerzen zuzufügen lässt er mich deine Taten immer ausbaden. Aber jetzt nicht mehr. Jetzt bin ich weg von ihm. Ein ganzer Ozean trennt mich von ihm. Ich bin frei von seiner Klaue, Ice. Zwar werde ich wohl als Sklavin für irgendeinen Lord enden, aber ich bin in gewisser Weise frei. Also nimm es ihm bitte nicht allzu übel, hörst du, Ice?
Erschöpft schnaube ich. Natürlich hört mich mein Zwillingsbruder nicht. Wie bereits erwähnt, ein Ozean trennt mich von meiner Familie. Ich befinde mich immer noch auf einem Schiff, das sich mit jeder Sekunde weiter von Luna entfernt. Weiter von dir entfernt, Ice - genauso wie von Vater. Ich bin mir nicht sicher, ob es mir das Wert ist, aber es ist besser als nichts.
Natürlich würde ich gerne in deinen Armen liegen und mich an dich Kuscheln. Mit dir durch die Winterlandschaft toben und rücksichtslos Schneeballschlachten veranstalten. Anschließend neben dir sitzen und gemeinsam mit dir eine heiße Schokolade trinken. Stundenlang bis tief in die Nacht mit dir über Gott und die Welt plaudern um dann glücklich an deiner Seite einzuschlafen.
Aber ich bin auch froh, weg zu sein. Denn da wären die endlosen Stunden, die ich auf diesem Stuhl gesessen habe, während unzählige Menschen mich angestarrt haben, weil ich erzwungener Weise meine Macht nutzte, um das Feuer am anderen Ende des Raums zu löschen. Da wären die Stunden der Folter, in denen Flammen an meinem Körper geleckt hatten, bereit, mich zu verschlingen, während du gezwungen warst hilflos zuzusehen, Ice. Da wären die Momente, in denen ich ausgepeitscht worden bin, während die Menge um mich herum gejubelt hat.
Ein Knall reißt mich aus meinen Gedanken. Ein Matrose hat die Tür aufgestoßen. Erschöpft öffne ich die Augen und seufze. Ich weiß, was kommen wird. Wir alle wissen es. Und wir alle fürchten das Urteil des betrunkenen Mannes.
DU LIEST GERADE
Burning Ice
Fantasy↬Wenn Feuer und Eis einander begegnen...↫ ...Wie ein Kaninchen drängt er mich rückwärts an die Wand. Er hält meine Handgelenke über meinem Kopf fest und nagelt mich förmlich an Ort und Stelle. "Nie wieder", knurrt er. In seinen Augen leuchtet die Wu...