Während Lucien und ich durch die vielen Gänge des Schlosses gegangen sind und ich mehr als einmal aufgegeben habe, die Orientierung zu behalten, wurden uns viele bewundernde Blicke zugeworfen und mehrfach hielt jemand inne und verbeugte sich.
Es ist wirklich ein eigenartiges Gefühl. Lucien, der ständig irgendwelche Witze reißt und sich unerträglich verhält, wird Respekt gezollt. Irgendwie scheine ich noch immer nicht realisiert zu haben, dass er ein Prinz ist - so wie Ice.
Aber auch bei dir, Ice, habe ich nie wirklich begriffen, was der angeblich so große Unterschied zu einem normalen Bürger sein soll. Mehr als einen Titel vor dem Namen und einem großen Haus besitzt du schließlich nicht. Nichtsdestotrotz besitzt du Macht - wenn auch unterdrückt wegen Vater. Wieso ist die Welt genau so? Ich habe es nie begriffen und werde es wohl auch nie verstehen. Aber damit will ich mich nicht ablenken, wenn ich mich einer großen Aufgabe gegenüber sehen muss. Und das muss ich.
In einem leeren, dunklen Gang nutze ich die Ungestörtheit um Lucien meinen Ellbogen in die Seite zu rammen. "Denk nicht, ich würde es still ertragen, dass du mich einfach so, ohne mich zu fragen, zu diesem Abendessen schleppst."
Amüsiert zieht er mich näher an sich heran. "Das weiß ich, sonst wärst du schließlich nicht mein Flöckchen", flüstert er mir verschwörerisch zu und fängt sich dafür noch einen Schlag ein. Grinsend kichert er. "Trotzdem würde ich es bevorzugen, wenn du mich nicht ganz zum Narren machst, wenn wir in Gesellschaft der anderen Adeligen sind", fügt er hinzu und wird dadurch wieder ernst, als hätte er sich damit selbst ermahnt.
Nachdenklich betrachte ich ihn. Auf den ersten Blick scheint er gelassen und entspannt zu sein, aber wenn ich genauer hinsehe, erkenne ich, dass seine Hände ganz leicht zittern. Was auch immer er vorhat, ganz wohl ist ihm dabei anscheinend nicht. Wenn das mal keine beruhigenden Aussichten sind.
Gemeinsam stoßen wir die gläserne Tür auf und ein reserviertes Lächeln bildet sich auf seinem Gesicht. Ich versuche es ihm nachzumachen, aber ich bin mir alles andere als sicher, dass es mir gelingt. Kaum betreten wir den lichtdurchfluteten, gigantischen Raum, stehen alle Anwesenden auf, die um einen unheimlich langen, schmalen Tisch gesessen haben. Unbeeindruckt nickt Lucien einmal höflich und zieht mich dann mit sich zum Kopfende des Tisches, der, ganz nebenbei bemerkt, von köstlich aussehendem, dampfendem Essen nur so überquillt. Unwillkürlich läuft mir das Wasser im Mund zusammen und ich erinnere mich daran, dass es mehr als einen Tag her ist, dass ich etwas gegessen habe.
Aber noch muss ich mich gedulden. Höflich, aber angespannt, bleibt Lucien vor einem Mann stehen, der gut genährt zu sein scheint. Und damit meine ich, wirklich gut genährt, sonst würde ich es nicht erwähnen. Ich hoffe, das ist deutlich genug.
"Vater", sagt Lucien ganz ruhig zu dem Mann und nickt ihm einmal höflich zu. Genauso erstaunlich nett wie vorhin auch zieht Lucien einen Stuhl für mich ein Stück weit zurück. Aber noch muss ich stehen bleiben. So haben wir das zuvor notdürftig abgesprochen gehabt. Er lässt seinen Blick einmal über alle Anwesenden schweifen und ergreift dann das Wort, obwohl die beiden Plätze uns gegenüber noch leer sind. "Es freut mich, dass ich Sie alle erneut wohlbehalten in diesem Saal zu diesem Abendessen begrüßen darf. Wie Ihnen sicherlich bekannt ist, habe ich nicht ohne Grund explizit um Ihre Anwesenheit heute gebeten."
Erstaunt werfe ich ihm einen Blick aus dem Augenwinkel zu, während ich mein nervöses Lächeln aufrecht erhalte. Er hat extra darum gebeten?
"Ich will nicht länger um den heißen Brei herumreden. Wenn ich vorstellen darf, diese wundervolle Dame an meiner Seite ist meine Verlobte, Prinzessin Snow." Mit einem Schlag ist meine Kehle staubtrocken und ich fühle mich wie in einem schlechten Traum. Ich soll bitte was sein? Seine Verlobte? Wenn ich mich recht erinnere, dann hat er mich auf einem Sklavenmarkt gekauft. Auf einem Sklavenmarkt! Da holt man sich nicht mal eben so eine Verlobte. Schon gar kein Prinz!
Es ist mir im Moment vollkommen egal, dass ich mich nicht wie eine standesgemäße Dame benehme. Mit großen Augen starre ich fassungslos ganz offen Lucien an, der mir verschwörerisch zuzwinkert, als wäre nichts. Als hätte er nicht mal eben so verkündet, dass ich ein Leben mit ihm verbringen müsste, obwohl ich ihn nicht im Geringsten kenne. Ich fühle mich, als würde man mir den Boden unter den Füßen wegziehen. Irgendein Teil meines Gehirns scheint sich doch noch daran zu erinnern, dass wir nicht alleine sind und ich noch etwas hinter mich bringen muss, bevor ich mich hinsetzen darf. Wie benommen hebe ich meine Röcke an und sinke in einen tiefen Knicks. Jetzt ist mir die Aufmerksamkeit aller sicher. Dieser verdammte Lucien!
Meine Hilflosigkeit verwandelt sich in Wut ihm gegenüber. Vollkommen wieder in der Realität angekommen setze ich mich ordentlich auf den Stuhl und starre stur geradeaus. Gemeinsam mit Lucien setzen sich auch alle anderen wieder hin und ich sehe, dass es ihm schwer fällt, ein Grinsen zu unterdrücken, während er mir einiges an Essen auf den Teller lädt - ohne, dass ich darum gebeten hätte.
Das bedeutet allerdings nicht, dass ich das Essen ablehnen würde. Im Gegenteil, ich kämpfe meine Wut nieder, indem ich das Festmahl geradezu verschlinge, auch wenn ich dabei kein einziges Mal meine Manieren vergesse.
Seit seiner Offenbarung herrscht eisige Stille und ich merke, dass man mir viele heimliche Blicke zuwirft. Man versucht mich einzuschätzen und mich besser kennenzulernen, aber darauf kann ich gerade mehr als gerne verzichten.
Nach einer Weile lehne ich mich ein Stück weit zurück und bedenke Lucien mit tödlichen Blicken aus dem Augenwinkel, da ich nicht wage, ihn direkt anzusehen. Er schmunzelt nur über meine Feurigkeit, isst aber unberührt weiter und langsam werden die Gespräche um uns herum wieder aufgenommen.
"War dies der Grund für Eure geistige Abwesenheit innerhalb der letzten Wochen, Mylord?", fragt der Mann, der neben mir sitzt und so tut, als würde ich nicht neben ihm sitzen.
Zustimmend nickt Lucien und seufzt theatralisch. "Seit ich einen heimlichen Blick auf die wunderschöne Lady Snow werfen konnte und ihre engelsgleiche Stimme an meine Ohren drang, ging sie mir nicht mehr aus dem Kopf und all meine Gedanken kreisten nur noch um sie. Sie hat mir sofort mit ihrem kühlen Blick den Kopf verdreht. Allerdings wurde sie streng bewacht, denn ihr Vater ist von hohem Rang in einem fernen Land, daher konnte ich nicht allzu viel Zeit mit ihr verbringen. Daher bitte ich auch um Entschuldigung für meine Abwesenheit während der Sitzung heute, doch als ich hörte, dass sie hierher übersiedelte, konnte ich vor Aufregung nicht still sitzen und musste sie augenblicklich in Empfang nehmen", erklärt er fadenscheinig. Er ist verdammt gut darin, den verliebten Idioten zu mimen, das muss ich ihm lassen.
"Wie habt ihr sie denn kennengelernt?", fragt der Mann wieder, diesmal jedoch ein wenig argwöhnisch. "Wenn sie doch so gut bewacht wurde, meine ich."
"Ach, es war ganz schicksalhaft, in einer Vollmondnacht", erwidert Lucien gelassen. Wann hat er sich bitte diese riesige Lügengeschichte ausgedacht? Er hat doch gemeint, er hätte noch anderes zu tun und daher nicht einmal genug Zeit mit mir zu sprechen? "Lady Snow hat sich des Nachts herausgestohlen und wie ein wunderschönes Phantom an einem glasklaren See gesessen, wo sie ein wundervolles Lied nach dem anderen gesungen hat. Jeden Abend saß sie an derselben Stelle. Ihre Stimme hat mich zu ihr geführt und mich in ihren Bann gezogen. Als ich ihr dann eine Woche später den Hof machte, hatte sie anfangs einige Bedenken wegen ihres überfürsorglichen Bruders, stimmte dann jedoch zu meinem größten Vergnügen einer Verlobung zu."
Es kostet mich wirklich einiges an Überwindung, Lucien nicht ungläubig anzustarren. Was für einen kitschigen Unsinn erzählt er da bitte? Und woher weiß er, dass ich mich - vor Jahren - des Nachts aus dem Anwesen geschlichen habe um zu singen? Er jedoch legt lächelnd seine Hand auf meine und zwinkert wieder. Dieses Zwinkern steht nun offiziell direkt unter dem breiten Grinsen auf der Liste seiner Ausdrücke, die mich am Meisten reizen. "Verzeih Liebste, dass ich unsere Geschichte so offen preisgebe, wo ich doch weiß, wie schüchtern du bist", trägt er noch dicker auf und zwingt mich auf diese Weise dazu, eine gewisse Rolle zu spielen, wenn andere zusehen.
Der Mann räuspert sich betont. "Oh, ich bitte vielmals um Entschuldigung, sollte ich Euch zu nahe getreten sein, Mylord. Ich bete für Eure glückliche Ehe", redet er sich heraus und wendet sich seinem Teller zu, der auf einmal ungeheuer interessant zu sein scheint. Unwillkürlich ist mir dieser Adelige unsympathisch. Er betrachtet Frauen nicht als gleichgestellte Wesen, sondern als Objekte der Zierde. Mistkerl...
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Burning Ice
Fantasy↬Wenn Feuer und Eis einander begegnen...↫ ...Wie ein Kaninchen drängt er mich rückwärts an die Wand. Er hält meine Handgelenke über meinem Kopf fest und nagelt mich förmlich an Ort und Stelle. "Nie wieder", knurrt er. In seinen Augen leuchtet die Wu...