«Die Schule läuft gerade mal zwei Wochen und die zwingen uns bereits so einen Mist zu lesen», schmollte Lu. Ich lief hinter ihm und Coralie zum Schlosspark, welcher sich nicht unweit der Schule befand. Da es noch immer relativ angenehm warm war, assen wir häufig hier draussen anstelle in der stickigen Mensa.
Die letzte Stunde vor dem Mittagessen war ausgefallen, sodass wir uns bereits eine Stunde zu früh dorthin verzogen. Die anderen drei aus unserer Clique, Kristin, Morgane und Yves, hatten vorgeschlagen Pizza zu holen, weswegen diese sich in die Richtung einer Pizzeria verzogen hatten um diese zu organisieren.
«Lu», sagte Coralie ernst, ehe sie mit dem Taschenbuch in ihrer Hand nach Lus Nase schlug, «Du befindest dich im letzten Schuljahr. Da wird dir niemand ein Kinderbuch mit vielen bunten Bildern in die Hand drücken, bei dem du so tun kannst, als ob du es liest.»
«Das sagst du ja auch nur, weil du dieses Alt-Französisch hier verstehst ohne das du deine Gehirnzellen anstrengen musst», protestierte Lu beleidigt.
«Erinnre mich bitte daran, dass ich dasselbe Argument nutzen werde, wenn wir wiedermal in Italo bescheuerte Bücher lesen müssen», seufzte Coralie, «Le Diable au Corps von Radiguet ist gar nicht so schlimm wie du tust, Luciano.»
«In dem Buch geht es um einen fünfzehnjährigen Naseweis und eine Soldatenbraut der langweilig ist, weil ihr Mann im Krieg ist und plötzlich ist da Sex im Spiel – Coralie, wie kann das nicht der grösste Mist sein, den du je gelesen hast?», rief Lu mit erhobenen Händen.
Obwohl ich nur Coralies Rücken sah, wusste ich genau, dass sie jetzt mit den Augen rollte, «Glaub mir, den grössten Mist der je fabriziert wurde hab ich bereits vor zwei Jahren gelesen. Das Werk heisst Woyzeck.»
Schmunzelnd beobachtete ich die Situation zwischen meinen beiden besten Freunden.
Im Schlosspark angekommen suchten wir uns ein Plätzchen mit einer guten Mischung aus Schatten und Sonne. Coralie machte es sich vor einem der Bäume bequem, während ich mich an der gegenüberliegenden Mauer anlehnte.
Coralie legte ihren Rucksack neben sich auf den Boden, während sie das Buch aufschlug. Sie streckte ihre Beine erst der länge nach aus, ehe sie diese übereinanderschlug. Aufgrund der Bewegung blitzen ihre Knie durch die Löcher in ihren schwarzen Jeans hindurch.
«Jetzt im Ernst?», fragte Lu, welcher noch immer dumm in der Gegend rumstand, «Du liest den Schrott jetzt?»
Etwas entgeistert blickte Coralie hoch zu dem Tessiner, ehe sie mit der Hand, welche das Taschenbuch hielt, auf mich zeigte: «Wenn du jemanden anmotzen willst, dann motz bitte Andrin an. Schliesslich war es seine Idee das wir für den Französisch Unterricht am Nachmittag das Ding weiterlesen und so vorbereitet sind.»
Ich liess den Rucksack, den ich gerade öffnen wollte um das Buch herauszuholen, sinken und hob unschuldig die Arme über den Kopf. Doch Lu seufzte nur, ehe er es sich neben mir bequem machte.
«Mach mal deinen Rucksack weg», murmelte Lu und schob den dunkelgrünen Rucksack von meinem Schoss. Ich hatte keine Ahnung was der Tessiner vor hatte, und doch hatte ich plötzlich seinen Kopf in meinem Schoss liegen. Irgendwoher hatte Lu seine Sonnenbrille hervorgekramt, welche er nun aufsetzte und zauberte seine zerfledderte Ausgabe der Schullektüre hervor. Obwohl er vorhin noch derjenige gewesen war, welcher protestiert hatte, begann er ohne weiteren Kommentar die Schullektüre zu lesen.
Coralie warf mir vielsagende Blicke zu, doch ich zuckte nur mit den Schultern. Meine beste Freundin schüttelte den Kopf, ehe sie ihre Nase in ihre eigene Ausgabe des Buches steckte.
Ich hingegen – ich konnte mich alles andere als auf das, was auf diesen bedruckten Seiten stand konzentrieren. Immer und immer und immer wieder las ich dieselben Worte, doch sie wollten nicht in meinem Kopf kleben bleiben. Mein Blick wanderte immer wieder hinunter zu Lu. Doch der schien nur Augen für die französischen Worte zu haben.

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we are satellites
ספרות נוערAndrin wäre gerne ein Komet. Dabei lässt er sich eher mit einem Satelliten vergleichen, der in seiner Umlaufbahn festzustecken scheint. Obwohl er sich diese Saison einen Platz als Stammspieler im Zweitligateam seiner Eishockeymannschaft ergattert h...