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Vorsichtig stützte mich Franca beim Aussteigen aus dem Auto. Ich hatte endlich das Krankenhaus verlassen und nach Hause gehen können. Wobei hier Zuhause eher so zu betrachten ist, dass ich wieder bei Lu und seinem Mutterschiff unterkam.

Während Coralie und Lu sich praktisch jeden Tag nach der Schule die Mühe gemacht hatten mich zu besuchen (mit der Ausrede mir Hausaufgaben zu bringen), und es sogar die Drillinge geschafft hatten vorbeizukommen, hatte ich meine Eltern kein einziges Mal zu Gesicht bekommen.

Das letzte Mal als die Drillinge da waren wollte ich von ihnen wissen, ob unsere Eltern irgendetwas gesagt hatten. Doch meine jüngeren Geschwister meinten nur, dass seit meinem Abhauen kein Wort mehr über mich verloren wurde.

Wunderte mich das? Nein.

Verletzte es mich? Vermutlich mehr, als dass ich es zugeben möchte.

«Anabela hat dir übrigens das Gästebett in ihrem Büro hergerichtet», holte mich Franca zurück in die Realität, «Ich weiss, dass du lieber weiterhin dir ein Bett mit meinem Sohn teilen würdest...» – «... aber der Arzt meinte, es wäre besser, wenn ich vorerst allein schlafe», beendete ich Francas Satz.

Der Arzt wollte kurz vor der Entlassung wissen, ob ich in einer Beziehung war. Natürlich hatte ich ihm nicht direkt an den Kopf geknallt, dass ich schwul bin, sondern hatte ihm einfach nur seine Frage mit einem simplen ja beantwortet. Dennoch war es verdammt unangenehm gewesen als er gemeint hatte, dass alles in der romantischen Sparte erstmal tabu für mich war.

In etwa genauso unangenehm war jetzt auch Francas Kommentar, dass ich mir lieber weiterhin mit Lu ein Bett teilen würde.

Zugegebenermassen, ja. Ich tat nichts lieber als neben Lu einzuschlafen und am nächsten Morgen wieder aufzuwachsen. Ich liebte die Art und Weise wie sich sein Körper an meinen schmiegte. Wenn Lu neben mir war fühlte ich mich sicher. Geborgen.

Ich hätte nie gedacht, wie schnell ich mich daran gewöhnen würde mit jemandem neben mir einzuschlafen und wieder aufzuwachen. Denn im Krankenhaus hatte ich mich schnell etwas einsam gefühlt. Die letzten Tage fiel es mir schwer einzuschlafen. Ich versuchte dies aber eher auf die Umgebung eines Krankenhauszimmers zu schieben.

Oben im Hause Constantini Antunes Correia angekommen half mir Franca dabei aus meinen Schuhen und meiner Jacke zu kommen. «Wenn du magst, dann kannst du es dir sonst auch den Nachmittag über im Wohnzimmer bequem machen und Fernsehen», bot Franca an.

Ich schüttelte so gut es ging den Kopf. «Ich glaube, ich hab im Krankenhaus genug Fern für den Moment gesehen», lehnte ich dankend ab, «Ich bin etwas müde.»

Letzteres war nicht gelogen. Ich hatte echt meine liebe Mühe gehabt Schlaf im Krankenhaus zu finden.

Franca führte mich ins Zimmer. «Du rufst, wenn du was braucht, Andrin. Ja?»

Ich nickte erneut so gut ich konnte. Franca tätschelte meinen Kopf, ehe sie mich in Anabelas Büro allein liess.

Vorsichtig setzte ich mich auf das Gästebett und liess meinen Blick durch das Zimmer wandern. Vor dem Fenster stand ein Schreibtisch, während an der gegenüberliegenden Wand zum Gästebett ein Regal stand, welches vollgestellt war mit Büchern, Ordnern und anderen Kisten voller Schulmaterial. Hie und da war ein Foto aufgestellt, welches Anabela, Franca und Lu in diversen Stationen ihres Lebens zeigte.


Ich wurde einige Stunden später wieder wach, als ich spürte, wie die Matratze, auf der ich lag, sich bewegte. Gähnend öffnete ich ein Auge um zu erspähen, wer das sich neben mich gesetzt hatte. Lu sass mit einem schiefen Grinsen im Gesicht auf der Bettkannte. Seine hellen Haare standen durch die Mütze, die er getragen hatte, etwas kreuz und quer in der Luft. Wie so oft in den letzten Tagen, in denen ich zu Gesicht bekommen hatte, trug er auch heute wieder seine Brille statt den Kontaktlinsen.

«Hi», flüsterte er leise. Achtsam beugte er sich zu mir hinüber und drückte einen kurzen Kuss auf meine Stirn. «Du bist zuhause», stellte Lu fest.

So gut ich konnte nickte ich. «Heute Morgen entlassen. Wie war die Schule?»

«Doof ohne dich», gestand Lu. Er hatte seine Hand ausgestreckt und sie auf mein Knie gelegt. Zärtlich streichelte er mit seinem Daumen darüber. «Ich nehme mal an, dass wir jetzt länger nicht zum Kuscheln kommen?»

«Leider», seufzte ich. Dabei legte ich meine Hand auf die von Lu, sodass ich unsere Finger ineinander verschränkten konnte. «Der Arzt meinte, dass es im aktuellen Status des Bruches eher kontraproduktiv sein könnte.»

«Das find ich ziemlich doof», seufzte Lu, «Wann kannst du wieder zur Schule?»

«Das dauert dann doch noch ein paar Wochen», murmelte ich, «Aber du bringst mir ja immer die Sachen mit. Von dem her sollte ich nicht allzu viel verpassen.»

«Da hat aber jemand Optimismus», lachte Lu. Er löste seine Hand aus meiner, damit er mir durch die Haare streichen konnte.

«Optimismus als radikale Lebenseinstellung», sagte ich trocken. Als mein Blick den meines Freundes traf, wirkte dieser ein klein wenig geknickt. «Was ist los?», wollte ich von Lu wissen, während ich dabei war ihn zu studieren.

Lu zuckte mit den Schultern. «Ich find's nur doof, dass du vorerst nicht mehr bei mir schläfst», gestand Lu sich auf die Lippe beissend, «Am liebsten würd ich meinen Kopf dahin legen, wo er immer liegt, wenn wir kuscheln oder du mich in den Arm nimmst. Aber da ist nun ein bescheuerter Bruch.»

Schwach bewegte sich mein Mundwinkel nach oben. «Es wird nicht für immer sein, okay?»

Schweren Herzens nickte Lu. «Hast du dich schon bei deiner Familie gemeldet, dass du nicht mehr im Krankenhaus bist?»

«Bei meinen Geschwistern schon, ja», antwortete ich. Behutsam änderte ich meine Position. Ich hatte die Erfahrung gemacht, dass zu schnelle Bewegungen einen ziemlich schmerzhaften Schmerz bei mir auslösen konnte.

«Und deinen Eltern?», hakte Lu nach.

Ich schluckte leer. Denn ich hatte meinem Freund nichts darüber erzählt, was die Drillinge zu berichten hatten. Davon, dass meine Eltern kein Wort mehr über mich verloren hatten, seitdem ich an Weihnachten gegangen war. Oder dass sie kein Interesse daran gezeigt hatten mich zu besuchen.

«Andrin?», ich mochte die Art und Weise nicht, wie Lu gerade meinen Namen aussprach.

«Ihnen hab ich noch nichts gesagt», gestand ich mit gesenktem Blick. Ich erwischte mich dabei, wie ich auf das Innere meiner Wange biss. Nuschelnd begann ich meinem Freund davon zu erzählen, dass sie mich kein einziges Mal im Krankenhaus besucht hatten. Erst wollte ich auslassen, dass die Drillinge erzählt hatten, dass man daheim tat, als ob ich nicht existieren würde. Aber es fühlte sich in diesem Moment nicht richtig an dieses Detail zu verschweigen.

Ich sah es dem Tessiner an, dass er mich am liebsten in den Arm nehmen und festdrücken möchte. Also streckte ich den Arm, welcher nicht durch den Bruch beeinträchtigt war, aus, damit ich Lus Hand liebevoll drücken konnte.

«Nicht das wir lauschen wollten», Anabelas Stimme liess uns beide erst zusammen- und dann hochschrecken. Das Mutterschiff stand im Türrahmen und sah zu uns hinüber, «Aber wir sind eventuell etwas besorgt darüber zu hören, dass deine Eltern bislang kein Interesse an dir gezeigt haben.»

Ich winkte ab so gut ich konnte. «Es ist normal für sie. Das ist die Aufregung nicht wert.»

«Die Aufregung nicht wert?», wiederholte Franca sichtlich aufgeregt, «Ich weiss, dass wir lange genug gesagt haben, dass du hier so lange wie nötig willkommen bist. Aber verdammt nochmal, du lagst jetzt einige Zeit im Krankenhaus mit einem Schlüsselbeinbruch – und sie haben noch immer kein Interesse gezeigt? Sorry, aber das geht definitiv nun etwas zu weit.»

«Und was wollt ihr tun?», fragte ich unsicher, «Ihr könnt sie nicht zwingen sich einen Scheissdreck um mich zu kümmern, wenn sie es klar gemacht haben, dass ich für sie nicht mehr existiere.»

«Weisst du was wir können?», sagte Franca in einem Ton, der ziemlich angepisst klang, «Sie anrufen und ein ernstes Wörtchen mit ihnen reden.» 

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