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Julia lag stöhnend in ihrem Hotelzimmer auf dem Bett.

Es war bereits in allen Nachrichten.

„Junges Mädchen verletzt im Wald gefunden. Wurde sie Opfer einer Gewalttat?"

„Unbekanntes Mädchen nach Unfall im Wald aufgetaucht. Die Polizei steht vor einem Rätsel."

„Wer ist das Mädchen, das verletzt und gefesselt einen schweren Autounfall überlebte?"

Diese und unzählige weitere Überschriften zierten die Artikel diverser Internetzeitschriften. Julia schüttelte den Kopf und seufzte bedrückt. Auf die wenigsten der Fragen hatte sie selbst eine Antwort. Alles, was sie beantworten konnte, war die Frage nach der Gewalttat. Das Mädchen war schwer traumatisiert, Narben zierten ihren Körper. Sie war ohne jeden Zweifel Opfer eines Verbrechens geworden, eines Verbrechens so unvorstellbar grauenhaft, dass es kaum Worte dafür gab.

„Sie ist extrem verunsichert", erinnerte sich Julia an Dr. Franks Worte. „Meiner ersten Einschätzung nach ist das Mädchen überfordert mit allem, was um sie herum geschieht. Das weist für mich auf eine vollkommene Entfremdung von der realen Welt hin. Ich konnte sie eingehend beobachten, während Sie mit ihr gesprochen haben, und ich hatte das Gefühl, dass sie einen andauernden inneren Kampf ausgefochten hat. Jede Frage, jedes Wort, das Sie an sie gerichtet haben, hat sie an den Rand der Verzweiflung gebracht, weil sie nicht zu wissen scheint, wie sie darauf reagieren soll."

Julia konnte das bestätigen. Sie hatte ein ganz ähnliches Gefühl gehabt und es erschütterte sie zutiefst.

„Meine erste Vermutung? Dieses Mädchen wurde jahrelang von der Außenwelt isoliert. Bei den Verhaltensmustern, die sie zeigt, muss sie noch ziemlich jung gewesen sein. In dieser Zeit wurde sie offensichtlich regelmäßig misshandelt – das zeigen ihre Narben – und vermutlich nach bestimmten Regeln erzogen. Daher der Kampf, der in ihrem Inneren tobt. Wenn ich ihr Verhalten interpretieren sollte – auch wenn ich sie nun erst einmal richtig erlebt habe – würde ich sagen, sie lebte in Gefangenschaft nach klaren Regeln und wenn sie gegen diese verstoßen hat, wurde sie dafür bestraft. Deshalb ihre panische Angst vor allem, was wir sagen oder tun. Und die panische Angst ihrerseits, etwas falsch zu machen."

Die Vorstellung hatte Julia einen eiskalten Schauer über Rücken gejagt. Das war ungeheuer grausam!

„Achja, und ich vermute, man hat ihr verboten, zu sprechen. Deshalb schweigt sie zu allem, was wir sagen. Eventuell kann sie auch gar nicht gut sprechen. Womöglich wurde es ihr über Jahre hinweg verboten. Aber sie scheint alles – oder zumindest das meiste – zu verstehen. Das spricht dafür, dass sie ein Gegenüber hatte, das mit ihr gesprochen hat. Wie gut sie selbst sprechen kann, werden wir abwarten müssen."

Julia war noch immer sprachlos über all die Erkenntnisse. Sie deckten sich mit dem, was sie selbst beobachtet hatte. Alles, was die Psychologin sagte, schien das Verhalten dieses Mädchens perfekt zu erklären.

Sie musste jahrelang unter strengen Regeln gelebt haben. Diese versuchte sie auch jetzt zu befolgen und schien daran zu scheitern. Daher ihre unbändige Angst und die Panik in ihren Augen, wann immer Julia sich bewegte oder ein Wort an sie richtete. Dieses Mädchen schien in jeder Sekunde damit zu rechnen, für irgendetwas bestraft zu werden. Es brach Julia das Herz. Sie wollten ihr doch nur helfen!

Immer und immer wieder spielten sich die Szenen aus dem Zimmer vor Julias innerem Auge ab. Und da war etwas, was ihr nicht aus dem Kopf ging. Das Mädchen hatte sich in dem Raum umgesehen. Aber nicht, um sich das Zimmer anzusehen. Nein, sie hatte nach etwas gesucht. In allen Ecken und Winkeln. Julia wurde den Gedanken nicht los, dass sie nach einer Kamera gesucht hatte.

Lost GirlWo Geschichten leben. Entdecke jetzt