68

519 66 14
                                    

Der Polizist Peter Herrmann war aus allen Wolken gefallen, als er den Anruf erhalten hatte, dass Emily zurück bei ihrem Entführer sei. Er hatte erzählt, dass er irgendwann von einer Krankenschwester angetippt worden war. Er sei wohl eingeschlafen und sie habe ihn geweckt. Sie habe jedoch gemeint, dass er sich keine Sorgen machen solle. Sie habe gerade nach Emily gesehen, alles sei in Ordnung. Er müsse sich keine Gedanken machen, dass er kurz unaufmerksam gewesen sei.

Inzwischen hatten sie aufgrund der Videoaufnahmen der Überwachungskameras herausgefunden, dass ebendiese Krankenschwester Emily zu ihrem Entführer gebracht hatte. Sie hatten außerdem erfahren, aus welchem grausamen Grund sie es getan hatte. Warum sie Emily aus ihrem Zimmer geholt und den Polizisten zuerst betäubt und dann angelogen hatte: Sie war erpresst worden. Die kleine Lena, die in Emilys Zimmer in dem Käfig eingesperrt war, war ihre Tochter.

Es war kaum auszumalen, was diese Frau in den letzten vierundzwanzig Stunden durchgemacht hatte, seit ein paar Männer mit schweren Waffen bei ihr aufgetaucht waren und ihre Tochter mitgenommen hatten! Ein Team war gerade im Krankenhaus, um sie zu befragen. Denn – so verrückt es auch war – sie hatte einfach ganz normal weitergearbeitet, nachdem sie Emily ausgeliefert hatte. Naja, ganz normal vielleicht nicht. Sie war schrecklich mitgenommen, die Angst um ihre Tochter beherrschte sie, während das schlechte Gewissen Emily und ihren Eltern gegenüber sie zu zerbrechen drohte. Anfangs hatte sie sich geweigert, überhaupt mit der Polizei zu sprechen, da sie geglaubt hatte, noch immer von einem der Männer des Entführers beobachtet zu werden. Sofort war alles in Bewegung gesetzt worden, um besagten Mann ausfindig zu machen, doch man hatte niemanden finden können. Er war vermutlich bereits bei der Ankunft der Polizei am Krankenhaus verschwunden. Als man der Krankenschwester schließlich klargemacht hatte, dass das Leben ihrer Tochter und das von Emily von ihrer Aussage abhingen, hatte sie glücklicherweise nachgegeben.

Allerdings konnte die Frau zu Julias Enttäuschung keine Gesichter beschreiben. Als die Männer bei ihr zu Hause gewesen waren, hatten sie alle Masken getragen. Ebenso wie die beiden Männer heute Nacht vor dem Krankenhaus. Der Entführer, den Emily Vater genannt hatte, war im Auto gesessen und sie hatte ihn nicht sehen können.

Emily hatte sich freiwillig zu ihm bringen lassen. Julia war rasend vor Wut, welche Macht dieser Mann über das Mädchen hatte. Emily hätte sich so leicht wehren können. Sie hätte nur um Hilfe schreien müssen und nichts wäre passiert. Stattdessen hatte sie der Erzählung der Krankenschwester nach nicht einmal einen Laut von sich gegeben – weil der Entführer das so verlangt hatte. Wieder zeigte sich ihr blinder Gehorsam.

Die Aussagen der Krankenschwester brachten sie leider nicht weiter. Sie bewiesen lediglich, wie grausam bedacht der Entführer vorging und dass er nicht alleine war. Dass er Unterstützer hatte – und schwere Waffen. Diese ganze Sache konnte ihnen noch um die Ohren fliegen. Julia hatte schreckliche Angst, am Ende beide Mädchen zu verlieren. Emily musste überleben! Genauso wie Lena. Verdammt, die Kleine war gerade mal vier Jahre alt!

Ein Team war gerade in der Wohnung der Krankenschwester, um dort Spuren zu sichern. Vielleicht fanden sich Fingerabdrücke auf dem Treppengeländer oder an einem Türknauf? Sie suchten nach jedem Strohhalm, irgendetwas, das sie in die richtige Richtung weisen konnte. Außerdem wurde versucht, über Verkehrskameras die Fahrt des Wagens zurückzuverfolgen, den die Entführer benutzt hatten, um Emily vom Krankenhaus wegzubringen. Gleichzeitig suchten sie weiterhin auf Hochtouren nach dem Urheber des Livestreams. Wer auch immer dafür verantwortlich war, hatte seine Spuren leider gut verwischt. Er schien sich mit IT auszukennen, vielleicht hatte er beruflich damit zu tun.

Das Foto des Mannes hatten sie inzwischen an alle Polizeireviere, Tankstellen, Supermärkte und andere öffentliche Einrichtungen geschickt. Die Medien sollten vorerst außen vor bleiben, denn das Risiko war zu hoch, dass der Entführer dadurch in Panik versetzt wurde und die beiden Mädchen tötete, bevor er verschwand. Nein, sein Bild durfte nicht in den Nachrichten gezeigt werden und nicht im Internet kursieren. Er sollte sich in Sicherheit wägen, denn andernfalls würde er überstürzt handeln und das konnte fast nur ein böses Ende für Emily und Lena bedeuten.

Lost GirlWo Geschichten leben. Entdecke jetzt