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Ich war sehr, sehr, sehr, sehr, sehr nervös. Mein Herz klopfte laut und mein ganzer Körper war angespannt. Bald würden sie kommen.

Mama, Vater und Sarah.

Die halbe Nacht hatte ich mit Lilly gesprochen. Sie war tatsächlich hier gewesen! Julia hatte Recht gehabt, Lilly hatte hier auf mich gewartet. Ich hatte mich so sehr darüber gefreut!

Doch auch sie war mit der Situation überfordert. Sie riet mir zur Vorsicht, da wir einfach nicht mehr wissen konnten, ob wir den Menschen hier vertrauen konnten oder nicht. Sie glaubte eher nicht, schließlich hatten sie uns alle angelogen. Alle. Sogar Sarah. Was war das für eine Welt, in der Kinder lügen durften? War Sarah wirklich nicht dafür bestraft worden? Ich verstand das einfach nicht. Aber ich wusste, dass das alles noch viel schwieriger machte. Denn nun konnte ich mich nicht einmal mehr auf Sarah verlassen.

„Sarah hat dich nie angelogen, Emily. Sie hat dir alles gesagt, was sie wusste", gingen mir immer wieder Julias Worte durch den Kopf. Aber konnte ich dem glauben? Ich wusste doch überhaupt nicht mehr, wann Julia die Wahrheit sagte oder wann sie log. Oder... wann es eine Notlüge war.

Auch darüber hatte ich mich lange mit Lilly unterhalten. Notlügen. Vater hatte mir nie erklärt, dass es so etwas gab. Ich hatte immer die Wahrheit sagen müssen. Durfte ich auch... notlügen? Wenn ich mir selbst damit helfen konnte? Oder durften das nur andere? Wahrscheinlich durften das nur andere. Da stimmte Lilly mir zu. Kinder durften bestimmt auch nicht notlügen, ein Kind durfte nie lügen.

Wir alle lieben dich und das ist keine Lüge.

War das die Wahrheit? Ich wünschte es mir so sehr, weil Liebe etwas so Schönes war. Ich wollte, dass die Menschen mich liebten. Denn wenn man jemanden liebte, wollte man ihm nicht wehtun. Aber liebten sie mich wirklich? Lilly hatte mich gewarnt. Es war genau das, was Vater immer gesagt hatte. Die Menschen wollten, dass ich ihnen vertraute, bevor sie mich ausquetschen würden. Deshalb behaupteten sie, dass sie mich liebten, weil sie glaubten, dass ich ihnen dann vertraute.

Aber... wollten sie mich denn überhaupt noch ausquetschen? Julia hatte gesagt, dass sie Vater eingesperrt hatten. Ich verstand das immer noch nicht. Wie konnte man Vater einsperren? War das erlaubt? Wollten sie ihn auch vor irgendetwas beschützen? Oder wollten sie ihn bestrafen, so wie er es jedes Mal getan hatte, wenn er mich in den Käfig gesperrt hatte?

„Wahrscheinlich wollen sie dich jetzt noch viel mehr ausquetschen", hatte Lilly festgestellt. „Vater ist bei ihnen. Sie werden ihm alles erzählen. Sie werden ihm erzählen, ob du dich ausquetschen lässt. Und sie werden ihm erzählen, ob du dich an seine Regeln hältst. Wir müssen gut aufpassen, Emily. Vater muss irgendwo in der Nähe sein."

Und deshalb war ich jetzt so schrecklich nervös. Ich wusste nicht, ob Lilly Recht hatte, denn Julia hatte etwas davon erzählt, dass sie mich vor Vater beschützen wollten, dass er mir jetzt nicht mehr wehtun konnte. Wieso sollten sie ihm dann alles erzählen? Aber vielleicht war das ja eine Lüge gewesen. Vermutlich behauptete sie nur, dass sie mich beschützen würden und in Wirklichkeit würde Vater ihnen erklären, wie sie mich für meine Fehler bestrafen konnten.

Oh das alles überforderte mich so sehr. Als Julia vorhin dagewesen war und mich gefragt hatte, ob ich gut geschlafen hatte, hatte ich erschöpft den Kopf geschüttelt. Ich hatte fast gar nicht geschlafen. Ihr Gesicht war traurig geworden und sie hatte genickt, als würde sie genau wissen, warum ich nicht geschlafen hatte. Aber sie hatte mich nicht danach gefragt. Sie war eigentlich dagewesen, um mich zu fragen, ob ich bereit war, meine Familie zu empfangen. Familie. Das waren Mama, Vater und Sarah. Ich hatte sofort den Kopf schütteln wollen, aber ich wollte nicht, dass sie enttäuscht waren und mich dafür bestraften. Also hatte ich genickt. Ich musste bereit sein, wenn es das war, was sie wollten.

Lost GirlWo Geschichten leben. Entdecke jetzt