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Sie hatte sich berühren lassen. Hatte sich sogar gewünscht, dass Julia sie streichelte. Julia sah noch immer den intensiven Blick aus diesen unschuldigen blauen Augen vor sich, den das Mädchen ihr beigemessen hatte, als Julia sie das erste Mal berührt und die Haare aus ihrem Gesicht gestrichen hatte.

Julia wusste selbst nicht, was in diesem Moment in sie gefahren war. Wie sie überhaupt auf die Idee gekommen war, das zu tun.

Es war wohl die Macht der Gewohnheit. Für einen Moment hatte sie ihre eigene Tochter dort liegen gesehen. Sie hatte es geliebt, ihrer kleinen Sophie durch die Haare zu fahren und über das Gesicht zu streicheln. Wie aus Reflex hatte sie das auch bei dem Mädchen getan. Und irgendetwas war passiert, als sie ihr diese Zuwendung geschenkt hatte. Die Kleine hatte es genossen! Hatte sich sogar mehr gewünscht!

Julia musste unbedingt mit Dr. Frank darüber sprechen. Aber nicht nur darüber. Die Kleine hatte gesprochen – mit einem unsichtbaren Gegenüber!

Julia hatte all das kaum verarbeitet, doch dafür war nun keine Zeit. Maike hatte einen Anruf erhalten. Die DNA-Ergebnisse waren da. Sie kannten endlich die Identität des Mädchens.

Doch auf dem Weg zu Dr. Franks Büro fiel es Julia schwer, ihre Gedanken zu fokussieren. Andauernd glitten sie zurück zu jenem zärtlichen, innigen Moment, in dem das Mädchen die Augen geschlossen und einfach die Berührung genossen hatte. Julia hatte es geschafft. Sie hatte dem Kind ein kleines Stück Frieden gebracht – zumindest für einen Moment. Bis sich irgendetwas geändert und die Angst sie wieder überfallen hatte.

Dr. Frank schloss die Bürotür hinter sich. Das Klicken schaffte es, Julia wieder in das Hier und Jetzt zu befördern.

„Erzählen Sie", meinte die Psychologin, als sie auf einem der Sessel Platz nahm. Maike und Julia folgten ihr.

„Der DNA-Test ergab einen Treffer", begann Maike und ihre belegte Stimme machte Julia Sorgen. Es schienen keine guten Nachrichten zu sein. „Das Mädchen ist Emily Neumann."

Schon alleine bei dem Namen schnürte sich Julias Kehle zu. Denn sie wusste, welche der beiden möglichen Vermissten diesen Namen trug.

„Sie wird seit elf Jahren vermisst, nachdem sie im Alter von drei Jahren beim Spielen im Garten verschwunden ist."

Julia bekam kaum noch Luft. Die neue Erkenntnis war dermaßen grausam, dass sie, um mit ihren Emotionen klarzukommen, aufstehen und sich ein paar Schritte von den anderen beiden entfernen musste. Sie versuchte tief durchzuatmen, doch das erzielte nicht die gewünschte Wirkung.

Elf Jahre!

Im Alter von drei Jahren!

Die Informationen schmerzten tief in Julias Seele. Sophie war vier Jahre alt gewesen, als sie ihr genommen worden war. Gerade mal ein Jahr älter. Nicht auszudenken, was ein so kleines Kind durchmachen musste, wenn es vom einen auf den anderen Moment entführt wurde. Gefangen gehalten von einem perversen Monster – das vermutete Julia zumindest. In diesem Alter verstand ein Kind doch überhaupt nicht, was passierte. Wo seine Eltern auf einmal waren. Wie es sich zu verhalten hatte.

In diesem Alter wollten Kinder spielen, mit den Eltern und mit anderen Kindern. Im Kindergarten, auf dem Spielplatz. Sie hatten unendlich viel Energie und strahlten vor Glück, wenn man sie auf der Schaukel anschubste oder sie lobte, wie toll sie gerutscht waren oder ein Türmchen aus Holz gebaut hatten. Das war das, was das Leben eines dreijährigen Kindes ausmachte.

Wie hatte das Leben von Emily Neumann ausgesehen? Was war passiert, nachdem sie entführt worden war? Hatte man sie zunächst wie ein eigenes Kind erzogen? Oder hatte das Martyrium mit Regeln und Strafen schon am Tag ihrer Entführung begonnen?

Lost GirlWo Geschichten leben. Entdecke jetzt