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Die Stimmung im Raum war bedrückt. Es schien eine Last auf allen Anwesenden zu liegen, die sie unbarmherzig zu Boden drückte. Alle bis auf Sarah und Emily. Sarah schien sich unheimlich zu freuen, ihre Schwester endlich kennenzulernen. Und Emily? Sie war nicht bedrückt. Nein, sie war angespannt. Gespannt wie ein Bogen kurz vorm Abschuss. Nervös und einzig und alleine auf ihren Vater fixiert.

Julia konnte noch immer nicht fassen, was in den letzten Minuten geschehen war. Dr. Frank hatte Herrn Neumann bereits darauf vorbereitet, dass Emily in einer besonderen Weise auf ihn reagieren könnte. Dass sie Angst vor ihm haben, womöglich sogar in Panik verfallen könnte. Doch was tatsächlich passiert war, hatte vermutlich niemand erwartet.

Emily hatte gesprochen! Jedoch nur mit ihrem Vater.

Emilys Entführer schien ihr nicht ganz allgemein verboten zu haben, zu sprechen, sondern nur mit bestimmten Menschen. Auf irgendeine verrückte Art und Weise schien Emily alles, was sie von ihrem Entführer gelernt hatte, nun auf ihren Vater zu übertragen. Sie hatte unbedingt für ihn aufstehen wollen, hatte ihm erklärt, was für ein gehorsames Mädchen sie war und ging davon aus, dass er sie bestrafen würde, weil sie nicht schnell genug aufgestanden war. Was all diese Aussagen in Julia auslösten, konnte sie überhaupt nicht in Worte fassen. Es war zu grausam, um es an sich heranzulassen. Julia wollte sich gar nicht vorstellen, wie es den Eltern dabei gehen musste!

Doch Herr Neumann hatte hervorragend reagiert. Er hatte die Situation sofort richtig eingeschätzt und entsprechend gehandelt. Emily schien einzig und alleine auf ihn zu hören, seit er sich im Raum befand. Und, was fast noch wichtiger war: Sie schien auf ihn zu hören. Würde sie womöglich alles tun, was er sagte? Konnten sie das eventuell nutzen, um ihr endlich zu zeigen, dass diese Welt nicht böse war? Würde sie ihrem Vater vielleicht glauben, wenn er sagte, dass niemand ihr wehtun wollte?

Doch all das war nun erst einmal zweitranging. Viel wichtiger war es, die kleine Familie miteinander bekannt zu machen. Also erhob Julia nun wieder ihre Stimme.

„Also, Emily, du erinnerst dich doch noch an die Fotos, die ich dir gezeigt habe." Sofort sah das Mädchen sie wieder an, auch wenn Julia bemerkte, wie schwer es ihr fiel, ihren Vater aus den Augen zu lassen. „Und du erinnerst dich vermutlich auch noch daran, dass ich dir erklärt habe, dass das deine Eltern sind."

Julia schenkte Emily ein warmes Lächeln, in der Hoffnung, ihre unheimliche Anspannung ein wenig mindern zu können.

„Und das, meine Liebe, sind sie." Julias Lächeln wurde noch ein wenig breiter und sie zeigte mit ihrem Finger auf die Eltern.

„Das sind Johannes und Lena Neumann, dein Papa und deine Mama."

„Hey meine Süße", brachte die Mutter mit krächzender Stimme hervor.

„Und Sarah hast du ja schon kennengelernt", sprach Julia weiter, nachdem sie Emily einen Moment Zeit gegeben hatte, ihre Eltern noch einmal genauer anzusehen. „Sarah ist deine kleine Schwester, so wie ich dir bereits erklärt habe."

Leider glaubte Julia nicht, dass Emily überhaupt irgendetwas von alldem verstand. Der Blick des Mädchens war nicht weniger verwirrt als beim ersten Mal, als Julia ihr all das zu erklären versucht hatte. Wie sollte man denn auch jemandem verständlich machen, was Familie bedeutete, wenn er von alldem noch nie etwas gehört hatte? Wenn all das vollkommen fremd war? Einem Menschen, der überhaupt keine Ahnung hatte, wie ein Leben entstand und wozu es Eltern brauchte. Emily war so vollkommen unwissend. Es war traurig und zutiefst schockierend.

„Mama, darf ich zu ihr?", fragte die kleine Sarah in die entstandene Stille.

„Das musst du nicht mich fragen, Sarah. Das kannst du deine Schwester fragen."

Lost GirlWo Geschichten leben. Entdecke jetzt