Lost Girl

60

Ganz schüchtern hatte Emily noch nach Lilly gefragt. Sarah war sofort zum Bett gesprungen und hatte ihrer Schwester die Puppe auf den Schoß gesetzt. Es war so rührend, wie liebevoll sich Sarah um ihre Schwester kümmerte. Emily drückte Lilly ganz fest an sich. Sie schien schrecklich nervös zu sein und ihre imaginäre Freundin war diejenige, auf die sie sich ihr Leben lang hatte verlassen können. Es war vollkommen nachvollziehbar, dass Emily auch den ersten Gang nach draußen nicht ohne Lilly machen wollte. Dass sie sich von Lillys Anwesenheit ein wenig Sicherheit erhoffte in einer ihr so fremden Welt.

Nachdem Frau Neumann Emily wieder ihre Sonnenbrille aufgesetzt hatte, ging es endlich los. Dr. Frank gab ihr Okay, der Flur war im Moment menschenleer. Nicht nur Emily, sondern auch alle anderen – abgesehen von Sarah – waren angespannt und nervös. Würde Emily es schaffen, all die Türen zu durchqueren, bis sie den Garten erreicht hatten?

Doch Emily überraschte sie alle! Julia konnte es nicht fassen. Das Mädchen sah verschüchtert aus, während sie von Sarah und ihrer Mutter durch den Flur geschoben wurde, doch sie ließ es zu. Sie brach nicht bei jeder Tür in Panik aus, auch wenn Julia beobachtete, wie sie sich zunehmend mehr anspannte. Jeder Muskel in ihrem Körper schien zu arbeiten und sie schien ein Zittern nur schwer unterdrücken zu können. Ihre unruhige Atmung zeugte von ihrer Angst.

„Ist alles okay, Emily? Schaffst du das?", versicherte sich ihre Mutter sanft.

Emily nickte. Als eine Tür neben ihr geöffnet und sofort wieder geschlossen wurde – wer auch immer hatte herauskommen wollen, hatte wohl Emily entdeckt und beschlossen, noch einen Moment zu warten – zuckte das Mädchen schrecklich zusammen und ihre Atmung wurde unruhiger. Doch sie sagte nichts. Immer wieder sah sie angespannt – oder auch neugierig? – nach rechts und links. Aufgrund der dunklen Sonnenbrille konnte Julia die Emotionen in ihren Blicken nicht gut erkennen. Aber sie war unheimlich stolz! Sie war so stolz darauf, wie Emily das meisterte. Und stolz auf das, was sie in den letzten Tagen erreicht hatten. Emily schien tatsächlich zu beginnen, ihnen zu vertrauen. Sie schien die neuen Regeln – die eigentlich keine mehr waren – akzeptiert zu haben. Sie schien verstanden zu haben, dass sie keine Angst zu haben brauchte und dass niemand ihr wehtat. Dass es keine Strafen mehr für irgendwelche dummen Fehler gab.

Es machte Julia so unheimlich glücklich. Sie freute sich darauf, Emily gleich den Garten zu zeigen. In ihrer Vorstellung würde das Mädchen draußen strahlen, glückselig über das, was sie sah und erlebte.

Julia hoffte, dass es ganz genauso werden würde.

~

Es waren wirklich viele Türen. Das machte mir Angst. Eigentlich hatte ich versucht, sie zu zählen, aber sie waren überall! Rechts und links, vor und hinter uns. Ich hatte es nicht geschafft, sie alle zu zählen. Was sich wohl dahinter verbarg? Waren da noch mehr Kinder wie ich? Ungehorsame Kinder, die bestraft werden mussten? Oder Kinder, die einen neuen Vater bekamen? Kinder, die sich an neue Regeln gewöhnen mussten, so wie ich? Was bedeuteten diese vielen Türen nur? Waren da überall Menschen eingesperrt? Ich wusste es nicht. Einerseits machte es mich sehr neugierig und ich wollte es gerne erfahren, andererseits wusste ich, dass vermutlich alles, was hinter den verschlossenen Türen war, für mich verboten war. Ich durfte nur durch die Türen gehen, die Vater bestimmte, oder Türen, die offen waren. Ganz bestimmt durfte ich nirgends hin, wo die Tür geschlossen war.

Die meisten Türen, durch die wir gingen, waren so wie das Fenster in meinem Zimmer. Auf eine seltsame Weise schien man durchsehen zu können. Zumindest durch einen Teil der Tür. Sehr komisch. Nervös zählte ich weiter, als wir wieder durch eine hindurchgingen. Ich hatte es zwar nicht geschafft, alle Türen zu zählen, an denen wir vorbeigekommen waren, aber ich hatte die gezählt, durch die wir hindurchgegangen waren. Es waren bereits fünf! Fünf Türen! In meinem ganzen Leben war ich noch nicht durch so viele Türen gegangen!