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Es war inzwischen fast vier Wochen her, dass sie Emily aus den Fängen von Alexander Rohde befreit hatten. Eine anstrengende Zeit lag hinter ihnen, eine nervenzehrende Geduldsprobe. Die Nacht bei Rohde hatte bei Emily Zweifel entfacht, die sich leider sehr hartnäckig gehalten hatten. So hartnäckig, dass Julia immer wieder die Hoffnung verloren hatte, dass es jemals wieder besser werden könnte. Emily war hin- und hergerissen gewesen zwischen Wahrheit und Lüge. Sie hatte geglaubt, dass sich hinter allem eine Lüge versteckte. Ganz egal, was man zu ihr gesagt hatte, sie hatte immer befürchtet, dass man sie anlog.

Erst jetzt, fast vier Wochen später, begann sie wieder kleine Fortschritte zu machen, die nicht im nächsten Moment durch ihre Zweifel zerschlagen wurden. Sie schien endlich verstanden zu haben, dass man sie nicht dafür bestrafte, wenn sie gegen eine ihrer Regeln verstieß. Dass ihr nichts passierte, wenn sie zum Beispiel die Tür zum Bad durchquerte. Jedes Mal war es ein Kampf gewesen und hatte Emily an den Rand eines Nervenzusammenbruchs geführt. Sie hatte noch immer nicht ganz darauf vertraut, dass Alexander Rohde nicht in der Nähe war und niemand ihm erzählte, wenn sie ihrer Meinung nach ungehorsam war. Immer wieder hatte sie nach der Peitsche gefragt. Ob sie dieses Mal ausgepeitscht wurde. Sie hatte noch immer auf die Strafe gewartet, die Rohde ihr angedroht hatte. Und wann immer man ihr gesagt hatte, dass diese Strafe niemals kommen würde, hatte sie es für eine Lüge gehalten – oder zumindest befürchtet, dass es eine Lüge sein könnte. Es hatte lange gedauert, bis sie eingesehen hatte, dass vielleicht doch ein Funken Wahrheit in den Worten steckte. Schließlich war sie bis heute nicht ausgepeitscht worden.

Wenigstens hatte Emily in den letzten Wochen einigermaßen anständig gegessen. Allerdings nur, weil Julia ihr keine Wahl gelassen hatte. Sie hatte Emily gesagt, dass sie essen musste, um wieder gesund zu werden. Und wie nicht anders zu erwarten gewesen war, hatte Emily sich nicht getraut, sich diesem Befehl zu widersetzen. Leider hatte Julia sie damit sichtlich gequält. Es war grausam gewesen, mitanzusehen, wie Emily beim Essen gelitten hatte, welche Angst sie gehabt hatte, etwas falsch zu machen. Doch Julia hatte keinen anderen Weg gesehen, um Emily bei ihrer Genesung zu unterstützen. Künstliche Ernährung sollte nur im äußersten Notfall Anwendung finden und Julia hatte darauf gehofft, dass Emily früher oder später begreifen würde, dass sie noch immer nicht bestraft wurde, obwohl sie jeden Tag etwas aß.

Und das hatte sie. Sie hatte es endlich begriffen! Seit ein paar Tagen aß sie anstandslos jeden Brei, den man ihr brachte, und ihr Blick war dabei sehr viel weniger angsterfüllt. Es war einer der vielen kleinen Fortschritte der letzten Tage. Sie war außerdem auch weniger angespannt, wenn jemand ihr Zimmer betrat. Sogar, wenn Sarah auf ihr Bett hüpfte, zuckte Emily nicht mehr zusammen. Und sie ging alleine zur Toilette, wenn sie zuvor um Erlaubnis gefragt hatte. Sie schien nicht mehr jedes Wort zu hinterfragen, das man an sie richtete und wirkte auch ganz allgemein weniger verunsichert.

Doch den größten Durchbruch hatten sie heute erzielt.

Seit Emily zurück im Krankenhaus war, hatte sie ihr Zimmer kaum verlassen. Lediglich für Untersuchungen hatte sie sich aus dem Zimmer bringen lassen und das war nur möglich gewesen, weil man ihr erklärt hatte, dass diese Untersuchungen Pflicht waren. Deshalb hatte sie zitternd hingenommen, die Tür aus ihrem Zimmer und weitere Türen im Krankenhaus durchqueren zu müssen. Das Krankenhausgebäude hatte sie jedoch nie verlassen, ganz egal, wie oft Julia oder Emilys Familie es vorgeschlagen hatten. Emily hatte sich nie getraut – bis heute. Heute hatte sie endlich zugestimmt.

Julia war ein Stein vorm Herzen gefallen, als sie Emilys leises „Okay, Mama" gehört hatte. Zuerst hatte sie gemeint, sich verhört zu haben. Erst der freudige Aufschrei von Sarah hatte sie begreifen lassen, dass sie tatsächlich richtig verstanden hatte. Emily war bereit, nach draußen zu gehen! Es war unglaublich!

Lost GirlWo Geschichten leben. Entdecke jetzt