2 ✔️

1.9K 132 62
                                    

Ich hatte schreckliche Angst. So sehr wie noch nie in meinem ganzen Leben! Nicht einmal vor Vater oder einer seiner Strafen hatte ich solche Angst.

Noch nie war ich woanders gewesen als in meinem Zimmer. Ich verstand immer noch nicht, was passiert war. Wieso war ich jetzt hier? Wieso war ich nicht mehr in meinem Zimmer? Wieso hatte Vater mich weggegeben?

Ich hatte Schmerzen. Große Schmerzen. Und mir war heiß. So schrecklich heiß. Woher kam diese Hitze nur? Und wo war ich überhaupt?

Alles um mich herum war mir fremd. Da waren diese Dinge, die Vater Bäume genannt hatte – früher, als ich noch mein Bilderbuch gehabt hatte, bevor er es mir weggenommen hatte, weil er gemeint hatte, dass ich nun zu alt dafür sei. Seither hatte ich keine Bäume mehr gesehen. Aber hier waren sie überall!

Sie waren groß und das machte mir Angst. Würden sie wirklich stehenbleiben? Oder konnten sie umfallen und mich unter sich begraben? Das hatte Vater mir nie erklärt!

Verzweifelt sah ich mich um. Ich wusste weder, wo ich war, noch wusste ich, was ich tun sollte. Ich war so verwirrt. Und Lilly war nicht da, um mir weiterzuhelfen. Mein Herz schmerzte, weil ich befürchtete, dass sie in dem Zimmer geblieben war. Dass sie dort geblieben war, als ich hatte gehen müssen. Ich würde es nicht ertragen, wenn sie mich verlassen hätte. Sie hatte mir zwar nicht immer geholfen, war nicht immer nett zu mir, aber sie war dennoch alles, was ich hatte. Sie war meine Freundin, ich hatte sonst niemanden. Dank ihr war ich wenigstens nicht ganz alleine und hatte meistens jemanden zum Reden. Doch nun war sie nicht da. Nun irrte ich verlassen und alleine durch diese fremde, heiße Welt.

Meine Hände waren hinter meinem Rücken gefesselt und jedes Mal, wenn ich fiel, war es ein Kampf, wieder aufzustehen. Ich spürte das Blut, das in meinem Gesicht herunterlief und immer wieder begann die Welt um mich herum, sich zu drehen. Weiße Punkte tanzten dann vor meinen Augen und ich musste eine Weile stehenbleiben, bevor ich weitergehen konnte.

Eigentlich wusste ich gar nicht, wohin ich ging. Ich wusste nur eines: Ich wollte weg von dem Auto. Auto – so hatte Vater es genannt, als er mit dem anderen Mann gesprochen hatte.

Es war dunkel gewesen in dem Auto und es hatte mir Angst gemacht. Die ganze Zeit hatte es Geräusche gemacht, die ich nicht kannte und plötzlich war ich hin- und hergeworfen worden, bevor ich schließlich herausgefallen war. Ich hatte mir meinen Kopf, meine Arme und die Knie überall angeschlagen, als ich herumgewirbelt worden war. Und als ich herausgefallen war, war ich mit meinem ganzen Körper auf den Boden geprallt, ohne mich abfangen zu können, weil meine Hände gefesselt waren.

Auf dem Boden war ich einige Momente reglos liegengeblieben, bis meine Gedanken sich wieder geordnet hatten und die Angst mich erneut gepackt hatte. Sofort war mir klar geworden, dass ich mich von dem Monster entfernen wollte. Obwohl ich kaum einen Schritt vor den anderen hatte setzen können, hatte ich mich in Bewegung gesetzt, während ich völlig erstaunt die fremde Welt wahrgenommen hatte.

Erstaunt und wenig später verängstigt.

Das hier war die Welt, von der Vater mir immer erzählt hatte. Die Welt, die voller Monster war. Monster, die mir wehtun wollten, noch viel mehr, als Vater es tat. Er hatte mich vor dieser Welt gewarnt. Die Menschen hier waren böse. Vater beschützte mich vor ihnen, indem er mich vor ihnen versteckte. Bisher hatte ich keinen von diesen anderen Menschen gesehen, aber die Vorstellung, dass genau das passieren könnte, ließ mein Herz noch viel schneller rasen und machte mir das Atmen schwer. Vielleicht tauchten sie genauso plötzlich auf wie Lilly immer? Sie würden mich ergreifen und mich mitnehmen und dann würde alles noch viel schlimmer werden, als es bei Vater jemals gewesen war.

Mein Herz pochte viel zu schnell und ich war vollkommen außer Atem. Ich brauchte eine Pause. Es war einfach zu heiß und die Schmerzen wurden immer schlimmer. Meine nackten Füße fühlten sich an, als wären sie überall aufgeschnitten. Noch nie war ich über so unebenen Boden gegangen. Überall lagen Dinge herum, die sich in meine Füße bohrten, mich piksten und mir wehtaten.

Ganz langsam ging ich in die Knie. Nun war ich dankbar um die vielen Kniebeugen, die ich in den letzten Jahren gemacht hatte. So schaffte ich es, mich auch ohne meine Hände langsam auf den Boden zu setzen.

Der Boden war uneben und unbequem. Etwas pikste die Haut meiner nackten Schenkel und ich wollte reflexartig wieder aufstehen, doch ich hatte keine Kraft dazu. Also versuchte ich mich daran zu gewöhnen und legte mich vorsichtig auf meine linke Seite.

Ich war so müde. Heute war so viel passiert. So viel, was noch nie in meinem Leben passiert war. So viel, was ich nicht verstand. So vieles, was mir Angst machte. Außerdem hatte ich Durst. Schrecklichen Durst. Ich fühlte mich wie an diesen Tagen, an denen Vater mir zur Strafe tagelang kein Essen und kein Trinken brachte. Aber ich hatte noch nie nach so kurzer Zeit so viel Durst gehabt. Ich spürte den Schweiß an meinem ganzen Körper! Normalerweise hatte ich nur ein wenig Schweiß auf der Stirn, wenn ich morgens meine Übungen machte. Nun war er überall, mein ganzer Rücken war nass. War ich krank? So krank wie damals, als ich hohes Fieber gehabt hatte? Auch damals war mein ganzer Rücken nass gewesen, so sehr hatte ich geschwitzt. Aber dieses Schwitzen hatte sich anders angefühlt. Ich glaubte nicht, dass ich gerade Fieber hatte.

Als ich endlich auf dem Boden lag, atmete ich einmal tief durch und schloss die Augen. Das Licht hier draußen in dieser Welt blendete mich. Meine Augen schmerzten und tränten.

Erschöpft ließ ich meine Gedanken durch meinen Körper wandern, um herauszufinden, wo ich Schmerzen hatte. Das tat ich immer, wenn Vater mir wehgetan hatte. Doch heute konnte ich gar nicht genau sagen, was mir wehtat. Alles tat weh. Es war fast so, wie ich es mir vorstellte, wenn ich mich in das Eck unter die Kamera stellen würde. Die Schmerzen waren überall. Sie waren vielleicht nicht schlimmer als die, wenn Vater mich auspeitschte, aber sie waren überall. Das war schlimmer.

„Hey, mach jetzt nicht schlapp. Hattest du nicht vor, vor dem Auto wegzulaufen?"

Irritiert schlug ich die Augen auf. Ich blinzelte gegen das viel zu helle Licht, dann entdeckte ich Lilly, die direkt neben mir stand.

„Lilly!", keuchte ich erleichtert. Sie hatte mich nicht alleine gelassen. Sie war noch da!

„Komm schon. Steh wieder auf. Du darfst jetzt nicht aufgeben. Du bist noch nicht weit genug weg. Scheiße, normalerweise hätte ich dich aufgehalten. Weglaufen ist verboten, das weißt du genau. Aber jetzt kannst du es nicht mehr ändern, also zieh es durch! Wer weiß, ob der Mann nicht schon nach dir sucht. Er kennt sich in dieser Welt bestimmt besser aus als du."

Ihre Worte ließen mein Herz höherschlagen und erinnerten mich daran, was eigentlich passiert war und wieso ich mich bis hierher geschleppt hatte. Schnell versuchte ich mich aufzurappeln. Doch ich sank sofort wieder in mir zusammen.

„Mach langsam. Du bist verletzt. Aber versuch es noch einmal. Du schaffst das. Ich weiß, was du alles kannst. Du bist bisher immer wieder aufgestanden, egal, was Vater dir angetan hat."

Leise stöhnte ich in mich hinein und nickte. Ich atmete noch einmal tief durch, dann startete ich einen zweiten Versuch.

Lilly half mir nicht. Das tat sie nie. Insgeheim wusste ich, dass sie das nicht konnte. Sie war anders als ich. Vater hatte sie noch nie gesehen. Sonst hätte er ihr längst wehgetan, wenn sie ganz selten doch auftauchte, während er da war.

„Komm, du schaffst das", ermutigte mich Lilly noch einmal, während ich mich mühsam ins Sitzen brachte. Wenn nur mein Körper nicht so furchtbar wehtun würde! Und wenn ich meine Hände hätte. Dann wäre alles so viel einfacher.

„Wenn du doch nur meine Fesseln lösen könntest", meinte ich traurig.

„Du weißt, dass ich das nicht kann", entgegnete sie. „Aber du schaffst das auch so", sprach sie aufmunternd weiter.

Ich versuchte ihren Worten zu glauben, zog meine Füße unter meinen Po und drückte mich ganz langsam hoch.

Mir tropfte sogar schon Schweiß in die Augen! Oder war es Blut? Vielleicht war es auch beides, auf jeden Fall machte es das Brennen in meinen Augen noch schlimmer und ich sah nur noch verschwommen.

„Komm", meinte Lilly und gab mir mit einer Handbewegung zu verstehen, ihr zu folgen.

Ich stöhnte erschöpft, setzte dann aber langsam wieder einen Fuß vor den anderen. Ich humpelte, da mein rechtes Bein sehr, sehr wehtat, wenn ich auftrat. Aber ich folgte Lilly entschlossen. Nur weg von diesem Auto. Und immer in der bangen Hoffnung, keinem anderen Menschen zu begegnen – keinem anderen Monster.

Diese Welt machte mir schreckliche Angst und ich wusste nicht, wie ich darin überleben sollte.

Lost GirlWo Geschichten leben. Entdecke jetzt