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Sie hatte es getan. Emily hatte sich durch die Tür schieben lassen – und auch durch die Gänge des Krankenhauses bis zum Röntgenraum. Aber Julia konnte geradezu beobachten, wie die Kleine bei jedem Menschen, dem sie begegneten, zusammenzuckte. Wie ihr Körper sich jedes Mal noch stärker versteifte und sie zunehmend zitterte. Wie Emily neugierig und zugleich überfordert ihre Umgebung wahrnahm und ganz genau beobachtete. Und wie sie schließlich voller Panik das Röntgen über sich ergehen ließ.

Die Angst in Emilys Augen war unverkennbar, als sie zitternd wieder aus dem Raum kam. Aber sie hatte sich nicht gewehrt. Sie war verhältnismäßig ruhig geblieben und hatte alles mit sich machen lassen. Doch Julia wurde das traurige Gefühl nicht los, dass sie das nur getan hatte, um nicht bestraft zu werden. Emilys Leben schien nur daraus zu bestehen: aus Regeln und Strafen. Julia wurde übel bei dem bloßen Gedanken daran!

Zurück in Emilys Zimmer half Schwester Schmidt dem Mädchen ins Bett und kündigte an, dass sie ihr das Frühstück bringen würde. Emily sah erschöpft aus. Schrecklich erschöpft. Die schweren Verletzungen mussten ihren Körper schwächen und die Anstrengung, die der Kampf an der Tür von ihr abverlangt hatte, hatte ihr vermutlich den Rest gegeben. Ebenso wie die darauffolgende Panik, etwas falsch gemacht zu haben. Und die Angst, die sie während jeder Minute außerhalb ihres Zimmers verspürt hatte.

Noch immer empfand Julia das dringende Verlangen, Emily in den Arm zu nehmen und sie zu trösten. Ihr magerer, zerbrechlicher Körper schrie geradezu danach, von einer liebevollen Umarmung vor allem Bösen bewahrt zu werden. Doch Julia wollte dem Mädchen nicht noch mehr zumuten. Der Morgen hatte ihr schon viel zu viel abverlangt. Und all das, nachdem sie noch gestern Abend nur um ein Haar dem Tod entkommen war.

Dass Emily überhaupt noch ihre Augen offenhalten konnte, grenzte an ein Wunder. Aber das lag vermutlich einzig und allein an ihrer angsterfüllten Wachsamkeit. Die Kleine kam keine Sekunde zur Ruhe. Nicht, solange sie nicht alleine im Raum war. Doch Julia hatte sich vorgenommen, für das Frühstück zu bleiben. Sie hatte gehört, dass Emily gestern den ganzen Tag nichts gegessen hatte. Falls sie noch länger das Essen verweigerte, würde man sie bald künstlich ernähren müssen. Das wollte Julia verhindern. Sie wollte dafür sorgen, dass Emily aß – auch wenn sie keine Ahnung hatte, wie sie das anstellen sollte. Aber Emily musste etwas zu sich nehmen. Andernfalls würde sie von Tag zu Tag schwächer werden, bis keine andere Wahl mehr blieb, als sie gegen ihren Willen zu ernähren.

Betroffen beobachtete Julia das Mädchen, wie sie leise ein und aus atmete. Ihr schien nur allzu bewusst zu sein, dass sie nicht alleine war, denn ihr Körper rührte sich nicht. Sie war angespannt, hatte Angst. Als sie hörte, dass die Tür geöffnet wurde, schnellte ihr Blick sofort in die Richtung und ihr Körper zuckte unter der weißen Bettdecke zusammen.

Schwester Schmidt kam herein und brachte das Frühstück. Sie schob den Tisch über Emilys Bett und stellte das Tablett dort ab. Julia bedankte sich und bat die Krankenschwester, wieder zu gehen.

„Ich werde mich darum kümmern", meinte sie und Frau Schmidt nickte verständnisvoll.

„Guten Appetit", wünschte sie Emily mit einem freundlichen Lächeln, ehe sie sich zurückzog.

Dann war Julia wieder mit Emily alleine.

~

Wieder hatten sie mir Essen gebracht. Sie nannten es Frühstück, aber ich kannte das Essen nicht.

Eigentlich wollte ich nur noch schlafen. Ich war so schrecklich müde. Doch die Frau mit dem Namen Julia war noch hier. Und solange sie hier war, durfte ich nicht schlafen. Das war unhöflich.

Besorgt sah ich von dem Teller vor mir zu der Frau. Sie lächelte mich an.

„Das ist für dich", erklärte sie. „Dein Frühstück."

Lost GirlWo Geschichten leben. Entdecke jetzt