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Es war ein Drama gewesen. Türen stellten für Emily ganz offensichtlich unüberwindbare Hindernisse dar. Nachdem Julia fünf Minuten lang versucht hatte, Emily zu erklären, dass ihr nichts passieren konnte, war Schwester Yeboah schließlich auf die Idee gekommen, einen Toilettenstuhl zu holen, sodass Emily nicht ins Bad musste, um sich zu erleichtern.

Doch damit war das Drama nicht vorbei gewesen. Als Emily sich endlich auf den Stuhl gesetzt und Julia ihr erklärt hatte, dass sie nun ihr Geschäft erledigen konnte, hatte das Mädchen sie entsetzt angesehen. Panisch hatte sie den Kopf geschüttelt.

Manchmal tat sich Julia wirklich schwer, die Kleine zu verstehen. Sie wünschte sich so sehr, dass Emily mit ihnen sprechen würde. Es würde alles so viel einfacher machen. Julia hatte Emily noch einmal ermutigt, doch das Mädchen hatte weiter voller Entsetzen ihren Kopf geschüttelt. Die einzige Erklärung, die Julia für das Verhalten fand, war die große Ähnlichkeit des Toilettenstuhls mit einem normalen Stuhl. Der Stuhl hatte zu wenig mit einer Toilette gemeinsam, weshalb es für Emily vermutlich unmöglich war, in die Wanne zu pinkeln.

Also hatten sie wieder das Badezimmer angesteuert. Julia hatte nicht fassen können, dass Emily offensichtlich den ganzen gestrigen Tag nicht auf der Toilette gewesen war! Denn niemand hatte ihr bisher von diesen Problemen erzählt.

Letztendlich hatte Emily nachgegeben. Vermutlich, weil ihr Harndrang zu penetrant geworden war. Unter Tränen hatte sie sich von Julia durch die Tür begleiten lassen und anschließend endlich Erleichterung gefunden.

Zurück im Bett hatte Emily noch immer gezittert. Das Abenteuer Toilette schien sie herausgefordert zu haben wie andere Menschen ein Bungee-Sprung.

Nach wenigen Minuten waren ihr jedoch die Augen zugefallen. Das Mädchen schien in der Nacht kaum geschlafen zu haben, vermutlich unter anderem wegen ihres Harndrangs. Julia war fassungslos, dass etwas so Einfaches für Emily ein so riesiges Problem darstellte. Oh die Kleine würde noch so viel lernen müssen. So schrecklich viel.

Doch als allererstes würde sie erfahren, warum Julia sie gestern Emily genannt hatte. Sobald das Mädchen wieder aufwachen würde, würde Julia versuchen, ihr das zu erklären. Und anschließend galt es noch ihr zu eröffnen, dass sie heute Besuch bekommen würde – von ihren Eltern und ihrer kleinen Schwester Sarah.

Julia war sehr gespannt, wie Emily das aufnehmen würde.

~

Emily.

Das war mein neuer Name.

Emily.

Ich mochte den Namen, denn er klang so ähnlich wie Lilly.

Julia hatte mir erklärt, dass das der Name war, den meine Eltern mir nach der Geburt gegeben hatten. Ich verstand nicht wirklich, wovon sie da gesprochen hatte, aber ich verstand hier ohnehin überhaupt nichts. Was ich aber verstanden hatte, war, dass mein neuer Vater kommen würde. Und das machte mir mehr Angst, als ich zugeben wollte. Deshalb sagte ich mir lieber meinen neuen Namen vor, weil er so schön klang. Viel schöner als Kleine, Schlampe, dummes Kind und all die anderen Namen, die Vater mir gegeben hatte. Emily. Würde mein neuer Vater mich auch so nennen? Oder würde er mir wieder einen anderen Namen geben. Einen von denen, die Vater ausgesucht hatte?

Emily. Es machte mich ein bisschen glücklich, wenn ich den Namen ganz leise flüsterte, solange niemand da war.

Emily.

Trotzdem konnte ich nicht anders, als an meinen neuen Vater zu denken. Julia hatte mir noch einmal ein Foto gezeigt. Sie hatte die Menschen darauf Mama, Papa und Sarah genannt. Aber ich hatte den Mann sofort erkannt! Es war der, den sie gestern Vater genannt hatte. Und er würde herkommen. Heute noch. Alleine bei dem Gedanken daran spannte sich mein ganzer Körper an. Ich würde mich anstrengen müssen, sehr, sehr anstrengen. Denn ich wollte, dass er glücklich mit mir war. Ich wollte, dass er mich loben konnte, anstatt mich zu bestrafen. Wenn er herkam, würde ich alles richtig machen müssen!

Lost GirlWo Geschichten leben. Entdecke jetzt