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Ich hatte die gelbe Lampe sehen dürfen! Vater hatte sie Fenster genannt und es war wirklich sehr hell gewesen, als Julia den gelben Stoff zur Seite gemacht hatte. Ich hatte große Angst gehabt, als die Frau mit dem Namen Mama mir die Sonnenbrille, wie sie das schwarze Ding nannten, auf die Nase gesetzt hatte. Aber ich hatte mich so sehr gefreut, etwas Verbotenes sehen zu dürfen, dass ich ganz mutig geblieben und kaum zusammengezuckt war, als sie auf mich zugekommen war.

Die Lampe – oder das Fenster – war ganz bunt. Ich hatte Bäume darin gesehen, die sich leicht bewegt hatten. Vater hatte erklärt, dass ich durch das Fenster hindurchsehen konnte. Da draußen wäre der Garten des Krankenhauses und ein Teil des Krankenhauses konnte man auch sehen. Ich war fasziniert davon. War das wirklich kein Bild auf der Lampe? War das, was ich sehen konnte, tatsächlich außerhalb meines Zimmers? Ich hatte noch nie irgendetwas außerhalb meines Zimmers gesehen! Nur manchmal, wenn ich durch die Tür sah, wenn Vater sie öffnete. Aber das Fenster war nicht geöffnet. Es war zu. Und trotzdem konnte ich nach draußen sehen, wenn es stimmte, was Vater sagte. Es war unglaublich faszinierend – und auch ein wenig verwirrend.

So wie alles, was passiert war. Es war alles sehr seltsam für mich. Ich würde noch viel darüber nachdenken müssen, was Vater erzählt hatte. Aber jetzt hatte ich keine Zeit dazu, denn die anderen waren immer noch da. Sie lächelten mich an, als Julia den gelben Stoff wieder vor das Fenster zog und Mama mir sagte, dass ich die Brille nun wieder abnehmen könne. Gerade, als ich vorsichtig meine Hand hob, begann mein Magen wieder laut zu knurren und ich zuckte leicht zusammen.

„Nanu, war das dein Bauch, Emily?", fragte Vater.

Ich nickte verlegen.

„Hast du Hunger?"

„Ja, Vater", gab ich zu. „Sehr sogar. Mein Bauch tut sehr weh."

Vater seufzte. „Ich habe schon gehört, dass du bisher fast nichts gegessen hast."

Er hörte sich nicht glücklich an. Sofort spannte mein Körper sich an. Hatte ich etwas falsch gemacht?

„Dann würde ich sagen, dass wir das doch gleich mal ändern. Das Frühstück ist zwar schon vorbei, aber wenn wir ganz lieb fragen, bekommen wir bestimmt noch ein Essen für dich."

Mit großen Augen sah ich ihn an. War das wieder ein Test?

„Darf... darf ich denn etwas essen, Vater? Ich... ich habe so viele Fehler gemacht."

„Natürlich darfst du essen!", antwortete Vater sofort. Sein Blick sah freundlich aus. Meinte er also tatsächlich ernst, was er sagte? „Emily, du hättest die ganze Zeit essen dürfen. Du musst dich nicht für irgendwelche Fehler bestrafen. Diese Regeln gelten wie gesagt nicht mehr. Du darfst alles essen, was du willst. Wenn du Brei willst, werden wir dir Brei bringen. Wenn du etwas anderes probieren möchtest, wirst du etwas anderes bekommen. Ganz, wie du es willst. Du darfst essen, wann du willst, was du willst und so viel du willst."

Noch einmal knurrte mein Magen laut und zog sich schmerzhaft zusammen. Verkrampft umklammerte ich meinen Bauch mit dem rechten Arm. Unsicher sah ich Vater an. Konnte das wirklich stimmen? Alles, was er sagte, war so unglaublich und ich konnte mir kaum vorstellen, dass es die Wahrheit war. Aber er hatte vorhin gesagt, dass er immer die Wahrheit sagen würde, wenn ich eine Frage stellte. Also müsste es auch jetzt die Wahrheit sein. Oder nicht?

„Na, was hättest du denn gerne zum Essen?", fragte Vater nun mit einem sanften Lächeln auf den Lippen. Mein anderer Vater hatte mich nie so freundlich angesehen.

Schüchtern hob ich den Blick von meinem erneut knurrenden Bauch. „Meinen Brei?", hauchte ich. Es klang mehr wie eine Frage, weil ich immer noch nicht ganz darauf vertraute, dass all das die Wahrheit sein konnte.

Lost GirlWo Geschichten leben. Entdecke jetzt