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Julia hatte einen Moment Abstand von den offensichtlichen Albträumen des Mädchens gebraucht und war ins Bad gegangen, um sich ein wenig kaltes Wasser ins Gesicht zu klatschen. Seit Minuten stand sie nun schon vor dem Spiegel und starrte sich selbst in die traurigen Augen. Emily ließ die Grenzen zwischen Realität und Traum verschwimmen. Die elf Jahre verloren geglaubte Tochter einer Mutter war zurückgekehrt. Während Julia in dem Zimmer gesessen und Emily beim Schlafen beobachtet hatte, hatte sie selbst zu träumen begonnen. Was, wenn es Sophie wäre, die dort lag? Ihre kleine, geliebte Sophie?

Doch ihr Töchterchen war nicht entführt worden, sie wurde nicht vermisst. Nein, sie war tot. Die Leukämie war keine Einbildung gewesen, ebenso wenig wie die vielen, vielen Stunden in der Klinik und schließlich der verheerende Tag vor drei Jahren. Der Tag, an dem Julia ihre kleine Tochter hatte gehen lassen müssen. Und wenig später der Tag, an dem sie sie zu Grabe getragen hatte. Oh wie sehr sie sich wünschte, dass es Sophie wäre, die in diesem Bett lag. Aber das war reine Träumerei.

Eine andere Mutter hatte ihre Tochter zurückbekommen. Und Julia würde dafür sorgen, dass wenigstens diese Mutter wieder glücklich werden konnte. Dass ihre Tochter nach elf Jahren Gefangenschaft nicht vollkommen zerstört und ein psychisches Wrack war, das niemals in der Lage sein würde, sich in der Gesellschaft zurechtzufinden. Und sie würde dafür sorgen, dass sowohl Mutter als auch Tochter Gerechtigkeit widerfuhr! Julia würde denjenigen finden, der für Emilys jahrelanges Leid verantwortlich war.

„Lilly? Lilly, bist du da?", hörte sie plötzlich eine zarte Stimme und hielt überrascht in ihrer Bewegung inne.

„Lilly? Bitte, ich brauche dich."

War das Emily? Es konnte nur Emily sein! Julia spitzte die Ohren. Das war unglaublich! Sie sprach? Emily sprach? Aber – mit wem?

„Lilly, ich bin so froh, dich zu sehen!"

Es war Emily! Definitiv! Und sie schien mit einer Lilly zu sprechen. War das... war das ihre imaginäre Freundin?

„Lilly, ich kann nicht mehr! Alles ist so anders hier. Ich mache so viel falsch. Andauernd mache ich Fehler, aber die Menschen haben andere Regeln als Vater. Ganz andere. Ich verstehe sie nicht. Sie haben mich immer noch nicht für meine Fehler bestraft. Ich habe Angst, Lilly. Wann werden sie mich bestrafen?"

Du liebe Güte! Was redete sie denn da? Rechnete sie allen Ernstes damit, dass man sie für irgendetwas bestrafen würde? Welche Fehler hatte sie denn ihrer Meinung nach gemacht? Abgesehen davon, dass sie sich heute Morgen dagegen gewehrt hatte, durch die Tür zu gehen?

„Ich weiß. Ich strenge mich ja auch an", sprach Emily weiter, ohne dass Julia eine Antwort der Gesprächspartnerin gehört hatte. Es musste sich tatsächlich um eine imaginäre Freundin handeln. Julia war sprachlos.

„Aber wie soll ich denn alles richtig machen, wenn sie sich nicht an Vaters Regeln halten? Ich musste heute durch so viele Türen gehen, Lilly. So viele Türen. Wenn Vater das mitbekommt, wird er mich so hart bestrafen. Er wird mich schlagen, auspeitschen und hungern lassen, bis ich nicht mehr stehen oder gehen kann."

Emily hielt einen Moment inne. Verdammt, was Julia da hörte, drehte ihr den Magen um! Doch ein Wort war schlimmer als jedes andere: Vater. Ein eiskalter Schauer lief Julia über den Rücken. Nein, das war nicht möglich. Emily war nicht elf Jahre lang von ihrem eigenen Vater gefangen gehalten worden. Niemals! Das war doch – nein, das war undenkbar! Warum sollte ein Vater seine dreijährige Tochter einsperren und über Jahre hinweg misshandeln? Und das alles, während er weiterhin mit seiner Frau zusammenlebte und ihr dabei zusah, wie sie vermutlich unter ihrer Trauer zerbrach?

Nein, Julia wollte nicht daran glauben. Doch sie wusste leider aus Erfahrung, dass manche Menschen zu Ungeheuerlichem fähig waren. Zu unmenschlichen Taten. Verflucht, sie musste das herausfinden, bevor die Eltern hier waren!

Lost GirlWo Geschichten leben. Entdecke jetzt