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Es waren inzwischen viele Tage vergangen, seit ich das letzte Mal bei Vater gewesen war. Ich hatte sie gezählt. Es waren fünfundzwanzig. In diesen fünfundzwanzig Tagen hatte ich mich sehr oft mit Lilly unterhalten, weil ich mit allem vollkommen überfordert gewesen war. Lilly hatte mir immer zur Vorsicht geraten. Wir konnten den Menschen nicht trauen. Vielleicht war Vater ja noch in der Nähe? Vielleicht logen sie uns die ganze Zeit an? Vielleicht würden sie mich doch noch bestrafen?

Aber ich war noch nie in meinem ganzen Leben fünfundzwanzig Tage lang nicht bestraft worden! Es machte keinen Sinn. Ich hatte inzwischen so viele Türen durchquert und gegen so viele Regeln verstoßen, dass die Strafe so hart ausfallen müsste, dass ich mir wünschen würde, ich wäre tot. Aber sie bestraften mich nicht. Nie. Kein einziges Mal. Stattdessen waren sie immer nett zu mir. Sie lächelten, unterhielten sich mit mir, ohne böse zu werden, benutzten keine von den Namen, die ich nicht mochte, und schlugen mich nicht. Sogar von den Fesseln an meinem linken Arm hatten sie mich befreit.

„Emily, das sind keine Fesseln", hatte Julia erklärt. „Deine Schulter war verletzt und die Bandagen waren dazu da, dass deine Schulter heilen konnte."

Ich wusste nicht, ob ich ihr das glaubte. Aber zumindest hatten sie die Fesseln gelöst. Immer wieder stellte ich mir die Frage, wofür sie mich belohnten, wenn sie so nett zu mir waren oder wenn Sarah mir einen kleinen, sehr zärtlichen Kuss hab. Ich konnte mich doch gar nicht an alle meine Regeln halten. Immer, wenn ich versuchte aufzustehen, weil jemand ins Zimmer kam, hielten sie mich auf. Ich aß jeden Tag dreimal! Dreimal! Und ich ging regelmäßig durch die Tür ins Bad, auch wenn ich natürlich versuchte, so selten wie möglich zur Toilette zu gehen. Ich ging jedes Mal erst dann, wenn meine Blase fast platzte oder ich Bauchweh hatte, weil ich es zu lange zurückgehalten hatte. Trotzdem musste ich dann durch die Tür gehen. Aber sie bestraften mich nicht dafür. Sie ließen es so wirken, als sei das alles ganz normal.

Normal. Nichts hier war normal!

Der Brei schmeckte anders als bei Vater. Es gab keinen Badetag mit zu heißem oder zu kaltem Wasser, sondern etwas, was sie Dusche nannten. Sarah und Mama hatten es mir beigebracht, nachdem die meisten meiner Schnitte gut verheilt waren. Sarah war mit mir in die Dusche gegangen, hatte mir gezeigt, wie man das Wasser an- und wieder ausmachte und in welcher Reihenfolge ich meine Haare und meinen Körper waschen konnte. Solange ich meinen linken Arm noch nicht so viel bewegen durfte – fürs Duschen hatte man mir die Fesseln immer kurz abgenommen –, hatte Mama mir bei den Haaren geholfen. Gestern hatte ich es dann ganz alleine probiert und wenn ich Mama glauben konnte, hatte ich es gut gemacht. Ich hoffte, es stimmte. Denn ich wollte alles gut machen! Unbedingt!

Ich hatte nämlich einen Plan:

Die Menschen sollten mich lieben.

Obwohl Lilly am Anfang skeptisch gewesen war, hatte sie meinem Plan schließlich zugestimmt. Menschen, die einen liebten, wollten einem nicht wehtun. Und ich hatte gelernt, dass es die Menschen freute, wenn ich etwas Neues ausprobierte. Wenn ich das tat, was sie wollten, obwohl es gegen Vaters Regeln verstieß. Wenn ich lächelte. Jedes Mal freuten sie sich darüber. Deshalb hatte ich heute Morgen meinen ganzen Mut zusammengenommen und zugestimmt, als Mama gefragt hatte, ob ich denn heute gerne mal nach draußen gehen würde.

Seit fünfundzwanzig Tagen hatte ich Vater nicht gesehen. Seit fünfundzwanzig Tagen hatte niemand mich bestraft. Vielleicht stimmte es ja doch, was die Menschen sagten? Vielleicht war Vater nicht mehr hier, um ihnen zu sagen, wie sie mich bestrafen sollten. Und vielleicht – vielleicht! – waren Mama, Papa, Sarah, Julia, Dr. Frank und die anderen Menschen hier tatsächlich so lieb, wie sie schienen. Ich wusste nicht, wie das möglich war, aber ich mochte sie. Vor allem Mama, Sarah und Julia. Bei Papa – er wollte nicht mehr, dass ich ihn Vater nannte, also hielt ich mich daran – hatte ich immer noch ein bisschen Angst. Obwohl auch er mir noch nie wehgetan hatte, was ebenfalls etwas war, was ich nicht verstand. Er war aber auch nicht mehr so oft hier. Mama und er hatten mir erklärt, dass er unter der Woche arbeiten musste und nur noch am Wochenende herkommen konnte – was auch immer das bedeutete. Aber wenn er hier war, tat er mir nicht weh, genauso wenig wie die anderen. Sie waren alle immer nur nett zu mir. Und deshalb hatte ich beschlossen, alles dafür zu tun, um von ihnen geliebt zu werden, sodass das auch so blieb.

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