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Es war eine Wonne mitanzusehen, wie die beiden Schwestern gemeinsam das Bilderbuch betrachteten. Sarah erzählte unheimlich viel und plapperte munter vor sich hin, während Emily offensichtlich fasziniert zuhörte. Zumindest, bis ihre Augen immer kleiner wurden und Julia schließlich beobachtete, wie die Augenlider sogar einen Moment zufielen, bevor Emily sie schockiert wieder aufriss.

„Sarah, ich glaube, Emily ist müde", erklärte Julia dem kleinen Mädchen sanft. „Vielleicht schaut ihr euch den Rest später an."

Fragend sah Sarah zu ihrer großen Schwester auf und entdeckte deren kleinen Augen, die bereits wieder kurz davor waren, zuzufallen. Wie lange war Emily wohl schon so müde? Wie lange kämpfte sie schon dagegen an, einzuschlafen? Hielt sie es in irgendeiner Form für ungehorsam, in der Anwesenheit ihrer Familie einzuschlafen? Oder hatte sie Angst, dass ihr etwas passieren konnte, sobald sie nichts mehr mitbekam?

„Braucht Emily noch einen Mittagschlaf?", wunderte sich die kleine Sarah. „Sie ist doch schon viel größer als ich und ich brauche keinen Mittagschlaf mehr."

Julia lächelte und schüttelte nachsichtig den Kopf. „Ich glaube, Emily hat heute Nacht einfach nicht gut geschlafen. Und sie hat viele Verletzungen und bekommt Medikamente gegen die Schmerzen. Das alles macht sie müde."

„Achso." Das schien für Sarah eine verständliche Erklärung zu sein. Ganz vorsichtig machte sie das Bilderbuch zu und legte es zurück auf den Schrank. „Dann schauen wir uns das später vollends an, okay?", wandte sie sich liebevoll an ihre Schwester. Ihre Stimme war dabei derart zärtlich, dass es Julia warm ums Herz wurde. Es war rührend, wie Sarah sich um Emily kümmerte.

Emily nickte kaum wahrnehmbar, so müde war sie.

„Okay, dann schlaf gut, Emily."

Ohne jede Vorwarnung gab Sarah ihrer Schwester ein weiteres Mal einen sanften Kuss auf die Wange. Emily zuckte kurz erschrocken zusammen, schien sich aber sofort wieder aus der Anspannung zu lösen. Es hatte den Anschein, dass sie sich an Sarah und ihre Nähe gewöhnt hatte. Das kleine Mädchen schien ihr keine Angst mehr zu machen, viel mehr war sie an ihrem Schutz interessiert. Immerhin hatte sie Sarah unbedingt noch einmal sehen wollen, um sicherzugehen, dass es ihr gut ging und Herr Neumann ihr nicht wehgetan hatte. Die Beziehung, die die beiden zueinander aufbauten, war eine große Chance für alle Beteiligten. Denn Sarah hatte die Möglichkeit, Emily auf ihre kindliche Art und Weise über die Welt, wie sie wirklich war, aufzuklären. Und das alles viel weniger angstbehaftet, als wenn Julia oder Herr Neumann ihr das zu erklären versuchten.

Langsam und vorsichtig krabbelte Sarah aus Emilys Bett und kam zu ihrer Mutter gehüpft. Aufgeregt erzählte sie ihr davon, wie sie mit ihrer großen Schwester das Buch angesehen hatte. Offensichtlich hatte sie eine große Freude daran, endlich Zeit mit Emily verbringen zu dürfen.

Während Julia beobachtete, wie Emily den Kampf gegen ihre Müdigkeit zu verlieren schien, erklärte Frau Neumann ihrer Tochter, dass sie nun besser gehen sollten. Der Vater nahm Sarah an die Hand und gemeinsam verließen sie leise schleichend das Krankenzimmer.

Julia warf noch einen letzten Blick auf das schlafende Mädchen. Sanft hob und senkte sich ihre Brust. Die Puppe Lilly lag auf ihrem Bauch. Seit sie sie zurückbekommen hatte, war sie immer ganz nahe bei ihr. Und das erste Mal hatte Julia das Gefühl, dass Emilys Gesicht beim Schlafen vollkommen entspannt wirkte. Ihre Erschöpfung hatte gesiegt, doch dieses Mal schien sie nicht voller Angst eingeschlafen zu sein. Ihr Körper war nicht in der gleichen Weise angespannt wie sonst, ihre rechte Hand lag zärtlich auf ihrem Bauch, die Finger wirkten entspannt. Vielleicht würde Emily ausnahmsweise einmal einen ruhigen Schlaf finden? Einen Schlaf ohne Albträume? Und einen Schlaf, bei dem sie nicht zu jeder Zeit Angst davor hatte, dass etwas passieren konnte?

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