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Julia machte sich sofort auf den Weg, als sie beim Frühstück von dem Zwischenfall am Vorabend erfuhr. Nur kurze Zeit später saß sie bereits in Dr. Franks Büro. Neben ihr saß Maike, die sie vorhin über alles informiert hatte.

„Sie wollte sich das Leben nehmen?", konnte Julia sich die Frage nicht mehr verkneifen.

„Das kann ich leider nicht genau sagen. Die Kleine hat den Kopf geschüttelt, als ich sie danach gefragt habe. Und ich schätze sie so ein, dass sie vermutlich nicht lügt. Ich denke, sie hat tatsächlich nicht beabsichtigt, an ihren Schnitten zu sterben. Aber mit Sicherheit kann ich nichts sagen, solange sie nicht mit uns spricht."

Julia wurde immer noch übel bei der Vorstellung, wie die Kleine den kompletten rechten Unterarm aufgeschlitzt hatte. Unvorstellbar. Warum hatte sie das nur getan?

„Was ich noch erwähnen möchte, ist, dass sie wohl gesprochen hat, bevor sie sich verletzt hat. Ich konnte jedoch nicht herausfinden, mit wem, und gehe davon aus, dass sie mit sich selbst gesprochen hat. Wenn sie tatsächlich so lange in Gefangenschaft lebte, wie wir vermuten, ist es nicht unwahrscheinlich, dass sie Selbstgespräche führt."

„Aber das heißt, sie kann tatsächlich sprechen?"

„Damit kommen wir zum nächsten Thema, über das ich mit Ihnen sprechen wollte."

Neugierig zog Julia ihre Augenbrauen hoch.

Dr. Frank seufzte. „Ich habe dem Mädchen dieselbe Frage gestellt. Außerdem habe ich sie gefragt, warum sie nicht mit uns spricht."

Die Psychologin legte eine bedeutungsvolle Pause ein, die Julia verrückt machte. Sie wollte die Antwort hören und zwar sofort!

„Das Mädchen hat bestätigt, dass sie sprechen kann. Mit uns spricht sie nicht, weil sie Angst hat, etwas Falsches zu sagen. Allerdings nicht nur deshalb."

Noch einmal atmete Dr. Frank tief durch.

„Es wurde ihr verboten", fuhr sie dann fort. Julia schluckte. „Wer auch immer sie gefangen gehalten hat, scheint auch jetzt noch großen Einfluss auf sie zu haben. Als ich dem Mädchen erklärt habe, dass dieses Verbot hier nicht gilt, ist sie zunehmend panischer geworden und hat wirr ihren Kopf geschüttelt. Sie scheint schreckliche Angst zu haben, dass wir sie dazu bringen könnten, gegen das Verbot zu verstoßen."

Aus den Augenwinkeln sah Julia, wie Maike ungläubig den Kopf schüttelte. Es war tatsächlich schwer vorstellbar, was in den Gedanken dieses Mädchens vor sich ging.

„Sie hat weiterhin kein Wort gesagt und ich konnte mich nicht mehr mit ihr unterhalten, weil die Panik ihren Zustand verschlechtert hat. Die Ärzte haben sie ruhiggestellt und sie hat die restliche Nacht geschlafen. Ich fürchte, wir können so bald nicht damit rechnen, dass sie mit uns sprechen wird. Es ist wohl schon als Erfolg zu betrachten, dass sie durch Nicken und Kopfschütteln mit uns kommuniziert. Was auch immer wir mit ihr besprechen wollen, wir werden versuchen müssen, es in Ja- und Nein-Fragen zu verpacken. Anders werden wir nichts von ihr erfahren. Dazu hat ihr Peiniger noch immer zu viel Macht über sie."

Julia war sprachlos. Das war unfassbar. Die Kleine war frei, sie war von ihrem Peiniger davongekommen. Sie hatte es geschafft! Doch das schien ihr selbst nicht bewusst zu sein. Für sie galten noch immer die Regeln ihres Entführers. Und sie schien die wirre Angst zu haben, dass ihr Entführer sie auch jetzt noch für etwas bestrafen könnte, wovon er gar nichts mitbekam. Das Mädchen war offensichtlich noch immer gefangen. Gefangen durch ihre eigenen Gedanken und durch die Regeln, die sie vermutlich jahrelang auf schmerzhafte Art und Weise hatte lernen müssen.

Es war grauenhaft.

„Sie haben gesagt, Sie wollen mit ihr sprechen?", riss Dr. Frank Julia aus ihren Gedanken.

Lost GirlWo Geschichten leben. Entdecke jetzt