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Hier kommt mit einem besonders langen Kapitel mein Weihnachtsgeschenk für euch!! <3 Ich wünsche euch ganz viel Spaß dabei :-)

Und noch ein kleiner Fakt am Rande: Die Geschichte hat inzwischen 100.000 Wörter überschritten! Mal gespannt, wie viele Wörter noch hinzukommen werden :-)

Ganz liebe Grüße und frohe Weihnachten euch allen <3
Eure Mary-Ann

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Sie hatte ihn gemalt. Emily hatte tatsächlich ihren Entführer gemalt.

Die Zeichnungen des Mädchens entsprachen laut Dr. Frank dem Entwicklungsstand einer Vier- bis Fünfjährigen. Sie befand sich in der sogenannten Schemaphase, bei der ein Mensch zwar bereits alle Gliedmaßen erhielt – im Gegensatz zu den Kopffüßlern der Dreijährigen – die Proportionen jedoch nicht ganz passten. Auch bei Bildern eines Raumes fehlte noch die Perspektive: unten der Boden, oben die Decke und alles andere dazwischen. Typische Bilder eines Kindergartenkindes. Emilys acht Jahre jüngere Schwester war ihr hier voraus, ihre Bilder zeigten bereits wesentlich mehr Details und berücksichtigten teilweise sogar die richtige Perspektive.

Nachdenklich betrachtete Julia das Bild des Entführers, das Emily gezeichnet hatte. Sie hatte es abfotografiert, bevor Maike es als Beweismittel mit aufs Revier genommen hatte. Als allererstes fielen die großen schwarzen Augen auf, die überproportional viel Raum in dem Gesicht einnahmen. Schwarze Augen – vermutlich ein Zeichen dessen, wie sehr der Mann Emily Angst machte. Welche Augenfarbe er tatsächlich hatte? Das konnte Emily womöglich selbst nicht sagen, vielleicht waren sie in ihrem Kopf tatsächlich schwarz. Ebenfalls auffällig waren die großen Hände des Mannes. Diese hatten für Emily vermutlich immer Gefahr bedeutet, weshalb sie auch auf dem Bild eine bedeutende Rolle spielten. Und dann war da noch etwas, was Julia zutiefst erschütterte und was vermutlich kein vier- oder fünfjähriges Kind jemals in das Bild eines Menschen malen würde: der Mann hatte einen Penis. Die ganze Zeichnung des Entführers ergab ein erschreckendes Bild dessen, was Emily die letzten elf Jahre durchgemacht und was die Anwesenheit des Mannes für sie bedeutet hatte. Schwarze, bedrohliche Augen, denen jedes Anzeichen von Liebe fehlte, gefährliche Hände, die sie für die kleinsten Fehler hart bestraft hatten und das Glied, mit dem der Mann sie sexuell missbraucht hatte – womöglich regelmäßig, wenn es einen Platz auf dem Bild fand.

Julia schloss einen Moment die Augen, um Abstand von der zittrig gemalten Zeichnung zu erhalten. Es half den Ermittlungen leider nicht weiter. Das Einzige, was sie erfahren hatten, war, dass der Mann braune Haare hatte. Doch das traf auf einen großen Teil der Bevölkerung zu und sie konnten schlecht alle braunhaarigen Männer verhaften, sie Emily vorführen und abwarten, wie sie reagieren würde. Welchen Mann sie definitiv als ihren Vater identifizieren würde. Ihre Reaktion würde das sofort verraten, dessen war Julia sich sicher. Nur leider war das nicht möglich.

Frustriert fuhr Julia sich durch die Haare und wischte weiter zum zweiten Bild: das Bild des Zimmers. Es war nicht besonders aufregend und doch erschreckend, wenn man bedachte, dass das vermutlich der Raum war, in dem Emily die meiste Zeit ihres Lebens verbracht hatte. Am unteren Rand des Bildes war der Boden. Darauf standen von links nach rechts ein Bett, ein Waschbecken, eine Toilette und ein Tisch mit zwei Stühlen. Das war's. Was besonders ins Auge stach, war jedoch die dicke rote Linie, die sie vom Boden bis zur Decke gemalt hatte. An der Decke, im rechten oberen Eck, war ein großer schwarzer Kreis mit einem kleinen roten Punkt. Julia wusste ganz genau, was das war und alleine der Gedanke daran schnürte ihr die Kehle zu. Es war die Kamera. Und die rote Linie war die Linie auf dem Boden, die Emily einmal angesprochen hatte. Dass Emily diese Linie über das ganze Bild gezeichnet hatte, bewies, welche große Rolle sie in ihrem Leben gespielt hatte. Emily hatte diese Linie vermutlich nie übertreten. Deshalb fehlte sie ihr nun so sehr. Es verunsicherte sie, dass es die Linie nicht mehr gab. Etwas, was zuvor ihr Leben mitbestimmt hatte, war nun einfach nicht mehr da. Es tat Julia im Herzen weh, wie sehr Emily unter all den Änderungen, die ihre Freiheit für sie mit sich brachten, zu leiden hatte. All das verunsicherte sie so sehr, versetzte sie gar in Panik, weil die festen Regeln und Routinen, nach denen ihr ganzes Leben ausgerichtet gewesen war, nun fehlten. Sie war in dieser Welt verloren und wusste nicht, wie sie sich zu verhalten hatte oder welche Regeln noch galten.

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