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Es war überwältigend, das erste Mal so ein Haus wie in den Bilderbüchern zu betreten. Alles war ein wenig beängstigend, aber es war auch schön und sehr faszinierend. Ich konnte noch immer nicht glauben, dass ich wirklich hier war! Jetzt bereute ich, dass ich Lilly nicht dabei hatte. Aber mit den Krücken hatte ich keine Hand mehr für sie frei. Ich würde ihr danach einfach alles erzählen müssen – falls es ein Danach gab. Falls ich zurück ins Krankenhaus kam und nicht hier in mein neues Zimmer gesperrt wurde. Der Gedanke machte mir Angst und ich versuchte ihn ganz schnell wieder zu vergessen. Ich wusste nicht, was passieren würde, aber alle hatten davon gesprochen, dass wir hier nur einen Besuch machten. Deshalb glaubte – und hoffte – ich, dass wir wieder zurück zum Krankenhaus fahren würden. Und wenn es so war, musste Lilly unbedingt alles erfahren, was ich erlebt hatte. Wie es in einem solchen Haus aussah. Dass ich wirklich hier gewesen war! Oder war ich das vielleicht gar nicht? War das mal wieder ein verrückter Traum? Weil Mama und Sarah mir das Foto gezeigt hatten? Ich konnte doch gar nicht wirklich hier sein. Solche schönen Häuser gab es nur in Bilderbüchern und Kinder wie ich durften sie bestimmt nicht betreten!

„Kommst du, Emily? Dein Zimmer ist oben."

Sarahs Stimme riss mich aus meinen Gedanken und ich zuckte zusammen. Ich konnte nicht verhindern, dass ich angespannt war, seit wir das Auto verlassen hatten. All das war zwar aufregend, aber trotz allem auch beängstigend. Verunsichert sah ich Sarah hinterher. Sie rannte auf eine Treppe zu. Eine Treppe? Noch nie hatte ich eine echte Treppe gesehen! Ich kannte sie nur aus den Bilderbüchern.

„Sarah, mach langsam. Emily ist doch gerade erst angekommen. Lass sie erstmal durchatmen und sich ein wenig umschauen."

„Aber ich will ihr doch ihr Zimmer zeigen."

„Das darfst du, sobald sie soweit ist. Überfordere sie nicht gleich. Sie ist schließlich das erste Mal hier."

Noch immer verunsichert sah ich zwischen Mama und Sarah hin und her. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ehrlich gesagt war ich ziemlich überfordert. Wie verhielt man sich in so einem Haus? Gab es hier Regeln?

„Keine Angst, Emily, dir kann hier nichts passieren. Du darfst dich einfach umsehen und dir alles anschauen, was du willst. Du darfst überall hingehen, in jeden Raum oder in den Garten."

Ungläubig sah ich sie an. Das alles fühlte sich immer noch nicht echt an. Ich konnte nicht wirklich hier sein! Denn ich hatte schon auf den ersten Blick so viel entdeckt, was ich nur von Bildern kannte. Da war ein Tisch mit Stühlen drumherum, so wie der, an dem sie in einem der Bilderbücher zusammen aßen. Und auf der anderen Seite des sehr großen Raumes war ein Sofa. Es gab auch Regale und Schränke und da waren so viele Bücher! Auf dem Boden beim Sofa lag ein bunter Teppich. Er sah sehr hübsch aus. Ich wollte mich am liebsten drauflegen, weil Sarah einmal, als wir ein Bilderbuch angeschaut hatten, erzählt hatte, dass ihr Teppich zu Hause so weich war, dass sie manchmal beim Fernsehschauen einfach auf dem Teppich lag. Das hätte ich sehr gerne ausprobiert. Denn normalerweise war der Boden hart. Mein Boden bei Vater war sehr hart gewesen.

„Das ist unser Wohn- und Esszimmer", erklärte Mama, als sie sah, wie ich mich mit großen Augen umsah. „Soll ich dir noch die Küche zeigen? Danach kannst du, wenn du möchtest, mit Sarah nach oben gehen und sie zeigt dir dein Zimmer."

Ich nickte, weil ich ohnehin nicht wusste, wie ich mich verhalten sollte. Wenn sie mir die Küche zeigen wollte, würde sie sich bestimmt freuen, wenn ich ihr folgte.

Bei jedem Schritt spürte ich, wie mein Herz noch schneller zu schlagen begann. So sehr ich versuchte, mir einzureden, dass alles gut war, ich schaffte es nicht, die Angst zu verdrängen. Warum zeigten sie mir das alles? Warum belohnten sie mich? Womit hatte ich das verdient? Ganz bestimmt würden sie mich gleich in mein Zimmer sperren und dort würden die Fesseln am Bett und der Haken an der Decke auf mich warten. Ich hatte mich in den letzten Tagen und Wochen sehr angestrengt, dass sie mich liebten. Aber liebten sie mich wirklich schon genug für das hier? Es war zu schön, um wahr zu sein. Es konnte nicht wahr sein!

Lost GirlWo Geschichten leben. Entdecke jetzt