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Julia brannte vor Tatendrang und dem verzweifelten Wunsch, denjenigen zu finden, der von dem Auto in den Wald geflohen war. Sie war sich ziemlich sicher, dass es sich dabei um eine Frau handeln musste – oder ein Mädchen. Das lange Haar war ein deutliches Indiz in diese Richtung.

Ein mulmiges Gefühl begleitete Julia bei jedem Schritt. Was, wenn sie bereits zu spät waren? Wenn die Frau oder das Mädchen zu schwer verletzt worden war und inzwischen ihren Verletzungen erlegen war? Die Menge an Blut auf der Picknickdecke war bedenklich gewesen und seither hatten Julia und ihre beiden Begleiter immer wieder kleinere Blutspuren im Wald entdeckt.

Sie waren auf der richtigen Spur, soviel stand fest. Dennoch hatten sie bisher niemanden gefunden. Ihre Rufe hallten durch die Stille des Waldes, doch niemand reagierte. Keine Antwort. Das war einer der Gründe, weshalb Julia sich so große Sorgen machte. Wenn jemand hier im Wald war, der Hilfe brauchte, würde er sich doch melden. Die Frau oder das Mädchen müsste sich doch irgendwie bemerkbar machen. Die einzige Erklärung dafür, dass sie das nicht tat, war, dass sie es nicht mehr konnte. Sie war bewusstlos – oder bereits tot.

Julias Herz zog sich zusammen und ihr Ehrgeiz wuchs noch weiter an. Ein Scheitern kam für sie nicht in Frage. Nicht jetzt. Nicht hier. Nicht, wenn sie sich gerade von ihrem Zusammenbruch erholt hatte. Sie wusste nicht, was ein Scheitern bewirken würde. Ob es sie um die ganzen zwei Wochen zurückwerfen würde, die sie sich um ihre Trauer und ihre Probleme gekümmert hatte.

Sie wusste, dass sie sich aus Selbstschutz besser raushalten sollte, aber das war ausgeschlossen. Sie konnte nicht einfach zurück zu ihrem Fahrrad gehen und weiterfahren, ohne einen Blick zurückzuwerfen. Dieser Fall hatte sie von der ersten Sekunde an in ihren Bann gezogen und sie sollte verdammt sein, wenn sie ihm nun einfach den Rücken zukehrte. Das war nicht ihre Art. Wenn sie einmal angebissen hatte, dann biss sie sich auch durch. Bis zum Schluss. Ohne Ausnahme.

Sie konnte das potentielle Entführungsopfer nicht im Stich lassen. Das verstieß gegen alle Werte, für die sie stand. Also würde sie nicht zurück auf ihr Fahrrad steigen, bis diejenige in Sicherheit war, die sich irgendwo hier im Wald versteckt hielt. Und insgeheim wusste Julia, dass sie auch dann nicht weiterfahren würde. Die Neugier hatte sie gepackt und sie würde nicht lockerlassen, bis sie die Antwort auf jede ihrer Fragen kannte.

Wer war die Frau oder das Mädchen, das in dem Kofferraum gewesen war? Wieso war sie dort gewesen? Wieso war sie entführt worden? Und wer war Jens Wagner? Was hatte er mit seinem Opfer vorgehabt? Gab es eine Geschichte hinter alldem oder handelte es sich um ein Zufallsopfer?

All diese Gedanken gingen Julia durch den Kopf, während sie mit Adleraugen ihre Umgebung absuchte und immer wieder mit lauten Rufen die Stille durchbrach.

„Der Suchtrupp mit den Suchhunden ist eingetroffen", wurde sie aus ihren Gedanken gerissen, als sie gerade einen weiteren Blutstropfen entdeckt hatte.

Sofort sah sie auf und dem Kollegen direkt in die Augen. „Sie sollen herkommen. Ich habe schon wieder Blut entdeckt. Von hier sollen sie die Fährte aufnehmen. Sie kann nicht mehr weit weg sein. Sie ist verletzt, wie weit kann sie denn da noch kommen?"

Der Mann zog die Schultern hoch und runzelte die Stirn. „Angst ist mächtig, Frau Schneider. Sie lässt Menschen Dinge tun, zu denen ein Mensch gar nicht in der Lage sein sollte. Vielleicht ist genau das hier der Fall."

Julia nickte. Natürlich hatte der Kollege recht. Es war nicht das erste Mal, dass Julia so etwas erlebte. Trotzdem glaubte sie nicht, dass die Frau noch weit entfernt sein konnte. Ihr Bauchgefühl sagte ihr, dass sie in der Nähe war, doch in einem Wald gab es viele Möglichkeiten, sich zu verstecken. Ein Wald war unübersichtlich. Die Spürhunde würden helfen, die ganze Sache zu beschleunigen.

Lost GirlWo Geschichten leben. Entdecke jetzt