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Es war wie in den Bilderbüchern! Ich konnte gar nicht glauben, dass ich das alles gerade wirklich sehen durfte. Ich war vorsichtig und noch immer ein wenig nervös, aber bisher hatte ich keine Monster entdeckt. Entweder sie versteckten sich gut oder die anderen hatten die Wahrheit gesagt. Ich war mir noch nicht ganz sicher, was ich glauben sollte, aber ich hoffte, dass es wirklich keine Monster gab.

Unter uns war Gras. Das hatte Sarah mir schon in den Büchern gezeigt. Über uns und irgendwie auch vor uns war der Himmel, ganz blau mit kleinen weißen Flecken. Das nannten sie Wolken. Dann waren da noch zwei Bäume und Blumen, wie ich sie auch aus den Büchern kannte. Sie sahen so schön aus und es fühlte sich immer noch nicht echt an, dass sie wirklich da waren. Dass es sie nicht nur in den Bilderbüchern gab.

Ich wusste, dass ich auch auf der Flucht vor dem Auto Bäume und den Himmel gesehen hatte. Ich glaubte, da waren auch irgendwo Blumen gewesen. Aber das war alles sehr verschwommen und ich war mir im Nachhinein gar nicht mehr sicher gewesen, ob ich das alles wirklich gesehen oder es mir nur eingebildet hatte. Vielleicht hatte ich es ja auch nur geträumt? Aber nun war ich hier und da waren tatsächlich Blumen und Bäume, Gras und der Himmel. Und hinter uns war das Krankenhaus. Ich hatte noch nie in meinem ganzen Leben so etwas Großes gesehen! So sahen also die Zimmer von außen aus? Wie funktionierte es, dass sie alle über- und nebeneinander waren? Wie war es möglich, dass das Haus nicht einstürzte? Es machte mir ein wenig Angst, deshalb schaute ich auch nicht mehr hin. Lieber sah ich die Bäume und den Himmel an.

Dr. Frank saß inzwischen mit Julia und Vater auf etwas, das Bank hieß, und Sarah hüpfte durch das Gras. Mama hatte bisher meinen Rollstuhl geschoben und mir alles gezeigt, jetzt stand sie neben mir und lächelte.

„Gefällt es dir hier draußen?", wollte sie wissen, obwohl die anderen das vorhin auch schon gefragt hatten.

Ich konnte nicht anders als zu nicken. Obwohl ich Angst hatte, war es so schön! Alles war bunt und hell, obwohl ich eine schwarze Brille trug. Da waren Geräusche, die ich nicht kannte. Es klang ein bisschen wie Musik und Mama hatte erklärt, dass das Vögel waren. Vögel, wie ich sie im Bilderbuch gesehen hatte.

Es war sehr warm hier draußen. Meine Haut fühlte sich an, als würde ich direkt neben der Heizung sitzen, die Vater im Winter in mein Zimmer stellte, wenn es zu kalt wurde. Aber hier war nirgends eine Heizung. Es erinnerte mich an den Tag, an dem ich vor dem Auto geflohen war. Auch da war es sehr heiß gewesen, ich hatte Schweiß auf meinem ganzen Körper gehabt. Woher kam diese Hitze nur? Sie schien überall zu sein, aber links war sie noch stärker. Da, wo ich nicht wirklich hinsehen konnte, weil es so schrecklich hell war, dass meine Augen brannten.

„Bei der Sonne musst du aufpassen. Da darfst du nicht direkt hineinsehen, das könnte deinen Augen schaden", hatte Julia vorhin erklärt. Die Sonne. War sie so etwas wie eine Heizung? Kam die Wärme von dort?

„Ist die Sonne eine Heizung?", traute ich mich zu fragen und umklammerte Lilly dabei etwas fester, weil ich Angst hatte, etwas Falsches zu sagen. Ich wollte nicht, dass Mama dachte, dass ich dumm war.

Sie lächelte. War das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen? Ich hoffte, ein gutes!

„Das könnte man tatsächlich vergleichen", meinte sie und ich sah sie überrascht an. Hatte ich Recht gehabt? Hatte ich etwas richtig gesagt? War ich ausnahmsweise mal nicht dumm gewesen? „Die Sonne ist sehr, sehr heiß! Ohne die Sonne wäre es auf der Erde kalt, sie ist also sozusagen unsere Heizung."

Ich war ein bisschen stolz auf mich, dass ich so schlau gewesen war und ausnahmsweise mal etwas verstanden hatte! Erstaunt bemerkte ich, wie meine Mundwinkel nach oben wanderten. War das, was ich gerade tat, tatsächlich ein Lächeln? Lächelte ich so wie Mama? Ich hatte das Gefühl, dass sie jetzt sogar noch mehr strahlte. Hatte ich sie glücklich gemacht?

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