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Julia genoss ihren Urlaub. Er war längst überfällig gewesen. Seit dem dunkelsten Tag ihres Lebens vor drei Jahren hatte sie sich kaum eine Pause gegönnt. Sie hatte sich in die Arbeit gestürzt und jeden abgeblockt, der versucht hatte, ihr ins Gewissen zu reden. Jeden, der versucht hatte, ihr zu erklären, dass es nicht gesund war, was sie tat. Dass sie es verarbeiten musste, anstatt es durch die Arbeit zu verdrängen. Aber sie hatte nicht zuhören wollen. Hatte es nicht zulassen wollen. Sie wollte es nicht verarbeiten, denn es tat viel zu sehr weh.

Erst, als sie vor zwei Wochen zusammengebrochen war und ihr Arzt sie daraufhin krankgeschrieben hatte, hatte sie ein Einsehen gehabt.

Ihre Kollegen, ihre Freunde – sie alle hatten recht gehabt. Sie hatten ihr nur helfen wollen und Julia hatte ihre Hilfe nicht angenommen. Nun hatte jedoch ihr eigener Körper schlapp gemacht und das war die Warnung gewesen, die sie gebraucht hatte. Das hatte sie wachgerüttelt und sie verstehen lassen, dass sie auf dem falschen Weg gewesen war.

Kurzerhand hatte sie ihren Rucksack gepackt und sich ihr Fahrrad geschnappt. Dann war sie einfach losgefahren. Ohne einen Plan und ohne ein Ziel. Man brauchte keinen Plan und kein Ziel, um wochen- oder monatelang einfach weiterzufahren. Und genau das tat Julia seit zwei Wochen. Sie fuhr einfach weiter und weiter. Und sie spürte, wie gut ihr das tat. Es gab nur sie, ihr Fahrrad und die Natur um sie herum. Nachts schlug sie ihr Zelt am Rand von Feldwegen auf oder sie suchte sich eine günstige, ruhige Unterkunft in einem kleinen Dorf. Manchmal schlief sie auch auf Campingplätzen, wo sie mit anderen Menschen in Kontakt kam, doch meistens versuchte sie, das zu vermeiden und für sich zu sein. Das brauchte sie im Moment. Es gab ihr Zeit und die Möglichkeit, über alles nachzudenken. Das zu tun, was sie seit drei Jahren mit aller Gewalt verhindert hatte.

Nun ließ sie die Gedanken zu. Die Gedanken und die Trauer. Alles, was sie so lange weggesperrt hatte, fand einen Weg in ihr Herz. Zu Beginn war es schmerzhaft gewesen. Die ersten Nächte hatte sie nur geweint. Doch so langsam spürte sie, dass es ein Teil von ihr geworden war. Und es machte sie nicht kaputt, nein, es machte sie stärker. Sie hatte endlich die Kraft besessen, sich dem dunkelsten Tag in ihrem Leben zu stellen und das erfüllte sie tatsächlich mit Stolz.

Julia atmete tief durch, während sie gedankenverloren über den Feldweg entlang eines hübschen Waldes fuhr. Schon lange war ihr niemand mehr begegnet. Es war wunderschön und tat ihrer Seele gut. Noch einmal atmete sie durch und ließ ein zufriedenes Lächeln über ihre Lippen wandern, als etwas ihre Aufmerksamkeit erregte. Neugierig fokussierte sie ihren Blick auf das rote Etwas am Straßenrand, vermutlich noch einen guten halben Kilometer von ihr entfernt.

Ihr Herz schlug höher. Sofort übernahm die Polizistin in ihr. Ihre Beine traten fester in die Pedale und sie näherte sich dem inzwischen klar erkennbaren Auto, das offensichtlich von dem Feldweg abgekommen war. Als sie nur noch um die hundert Meter entfernt war, reduzierte sie ihre Geschwindigkeit. Es bestand nun kein Zweifel mehr.

Julia fuhr vorsichtig ins Gras und blieb stehen. Sie sah sich einen Moment zu allen Seiten um, dann stieg sie ab und legte das Fahrrad behutsam ins Gras. Sie erkannte die Bremsspuren auf dem Feldweg und ein totes Reh. Das Blut auf dem Kies sah frisch aus. Das Reh war noch nicht lange tot.

„Hallo?", rief sie, während sie vorsichtig auf das Auto zuging. Ihre Instinkte hatten bereits im ersten Moment, als sie angekommen war, die ganze Umgebung abgescannt. Sie hatte niemanden entdeckt und da das Reh noch mitten auf dem Weg lag, glaubte sie auch nicht, dass schon jemand hier gewesen war, um den Insassen dieses Fahrzeugs zu helfen. Sie war sich ziemlich sicher, dass, wer auch immer mit dem Auto unterwegs gewesen war, noch in dem Unfallwagen saß.

Das Auto lag auf dem Dach. Es hatte sich wohl überschlagen, als es vom Weg abgekommen war.

Niemand antwortete auf Julias Frage. Sie bekam ein mulmiges Gefühl. Ihre Schritte beschleunigten sich, dann bückte sie sich zu dem kaputten Beifahrerfenster.

Der Beifahrersitz war leer, doch auf dem Fahrersitz hing ein Mann in seinem Sicherheitsgurt! Sofort rannte Julia um das Auto herum. Sie riss mit aller Kraft die klemmende Fahrertür auf und beugte sich zu dem Mann hinein.

„Hallo? Können Sie mich hören?"

Keine Reaktion. Julias Herz schlug schneller, während sie ihre Hand vor den Mund des Mannes hielt, um seinen Atem zu prüfen. Sie spürte einen ganz schwachen Hauch! Er lebte!

„Verdammt!", zischte sie verzweifelt. Sie war alleine, weit und breit war niemand zu sehen und der Fahrer dieses Wagens war nur noch halb am Leben. Sie musste es schaffen, ihn aus dem Gurt zu befreien und aus dem Auto zu ziehen, ohne dass sie ihm dabei noch mehr schadete. Zuerst zückte sie jedoch ihr Handy und verständigte den Rettungsdienst. Adrenalin pumpte durch ihre Adern, als sie das Handy anschließend wieder wegsteckte und sich dem bewusstlosen Mann widmete. Wie um alles in der Welt sollte sie ihn alleine aus dem Wagen kriegen, während er kopfüber hing?

Einige schweißtreibende Minuten später – es hatte über dreißig Grad hier draußen – hatte sie es tatsächlich geschafft. Der Mann lag in dem grünen Gras und sie suchte ihn sofort nach Verletzungen ab. Sein Gesicht war blutverschmiert, offensichtlich hatte er sich beim Überschlagen des Autos am Fenster gestoßen. Auch sein rechter Arm sah übel zugerichtet aus. Sie glaubte, er war gebrochen. Kleine Kratzer und Schrammen zogen sich über seinen linken Arm, vermutlich von dem zersplitterten Fenster. Mehr konnte sie auf die Schnelle nicht entdecken, denn viel größere Sorgen machten ihr momentan sein schwacher Puls und Atem. Sie brachte ihn in die stabile Seitenlage und sah verzweifelt auf die Uhr.

Wann kam denn endlich der Rettungsdienst?

Julia rannte zu ihrem Fahrrad und zog ihr kleines Erste-Hilfe-Set heraus. Notdürftig versorgte sie wenigstens die offenen Wunden des Verletzten mit Verbänden und Pflastern. Wieder fühlte sie nach dem Puls und seiner Atmung, doch nichts hatte sich verändert.

„Kommen Sie schon!", stieß sie aus und sah den Mann flehend an. „Machen Sie die Augen auf. Kommen Sie! Sehen Sie mich an. Machen Sie verdammt noch mal die Augen auf!"

Mit den Unterarmen wischte sie sich den Schweiß von der Stirn. Scheiße, der Mann würde ihr noch unter den Händen wegsterben! Vermutlich hatte er ein schweres Schädel-Hirn-Trauma erlitten. Wo blieb denn der Rettungsdienst?

Im selben Moment hörte sie endlich ein dunkles Dröhnen am Himmel. Erleichtert blickte sie auf und sah suchend hinauf in das grelle Blau. Schon im nächsten Augenblick hatte sie den Hubschrauber entdeckt.

Sofort stand sie auf und winkte so auffällig, wie sie konnte, obwohl das vollkommen überflüssig war. Man sah das rote Auto sicherlich besser als eine wild herumhüpfende zierliche Frau direkt daneben. Aber das war ihr egal. Sie wollte, dass dem Mann endlich geholfen wurde.

Wenig später war der Hubschrauber gelandet und ein Notarzt und zwei Sanitäter waren herausgesprungen. Julia gab ihnen alle Informationen, die sie hatte. Sie bedankten sich und wandten sich sofort dem Verletzten zu.

Julia stand bangend daneben und hoffte, dass die Hilfe nicht zu spät kam. Um sich abzulenken, betrachtete sie schließlich das Auto genauer. Es sah übel aus. Totalschaden. Das war nicht mehr zu retten. Die Fensterscheiben waren entweder zersplittert oder wiesen Sprünge auf. Die Karosserie war schwer verbeult und der Kofferraumdeckel hing offen herunter.

„Hier ist seine Brieftasche", kam einer der Sanitäter auf sie zu und lenkte sie einen Moment von dem Auto ab.

„Danke."

Sie nahm die Brieftasche entgegen und suchte nach dem Ausweis des Mannes.

„Jens Wagner", las sie seinen Namen laut. Sie wandte ihren Blick wieder dem Mann zu, der inzwischen mit Sauerstoff und einer Infusion versorgt war. „Hast du Familie, Jens Wagner?", stellte sie dem Bewusstlosen eine Frage, ohne eine Antwort zu erwarten. Sie redete eigentlich mehr mit sich selbst, so wie sie es immer tat, um ihre Gedanken zu ordnen.

Langsam ging sie um das Auto herum. Vor dem Kofferraum blieb sie stehen. Sie wusste nicht, was sie erwartete, zu finden. Doch die Polizistin in ihr war neugierig.

Aus dem offenen Kofferraum waren ein paar Flaschen Wasser und eine große Picknickdecke herausgefallen. Sie hob die Picknickdecke auf, um sie näher zu betrachten, als sie schockiert innehielt. Ihr Blick haftete auf der blau karierten Decke. Aber etwas gehörte da nicht hin.

Es war Blut.

Die Picknickdecke war voller Blut!

Lost GirlWo Geschichten leben. Entdecke jetzt