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Dünne rote Linien zogen sich über meinen linken Oberarm. Ganz klar und deutlich waren sie auf meiner weißen Haut zu sehen. Zitternd setzte ich das Blatt Papier ab. Der Oberarm meines gefesselten Armes gab mit den Bändern, die ihn festhielten, nicht mehr Platz her. Ich musste zum Unterarm übergehen.

Mir war schwindelig und die vielen kleinen Schnitte brannten. Doch ein Aufgeben kam nicht in Frage. Es hatte lange gedauert, bis ich es geschafft hatte, aus meinem Bett zu steigen, um mich auf den Boden zu setzen. Die Bettwäsche durfte kein Blut abbekommen. Sonst würde ich sie waschen müssen. Der Boden war dagegen viel leichter zu putzen. Und wenn ich Vater beweisen wollte, dass ich seinen Wünschen gerecht werden konnte, würde ich so lange weitermachen müssen, wie ich konnte. Ich legte meinen Kopf einen Moment in den Nacken und lehnte ihn gegen das Bett, um mir für einen Atemzug eine Pause zu gönnen. Wenigstens einen Atemzug lang.

Dann hob ich meinen Kopf wieder, um zu meinem Arm zurückzublicken – und setzte das Papier neu an. Ich wusste inzwischen ganz genau, wie ich es über meine Haut ziehen musste, um mich zu schneiden. Voller Schwindel begann ich das Papier zu bewegen, als ich erschrocken innehielt.

Die Tür. Das war die Tür!

Panisch sah ich von meinem Arm auf. Wer war auf dem Weg zu mir? War es Vater? Würde er mich nun bestrafen? Und konnte ich ihn besänftigen, wenn er sah, was ich für ihn getan hatte? Wäre er zufrieden mit mir? Würde die Strafe dadurch milder ausfallen?

Mein Herz raste, während ich voller Bangen auf die sich nähernden Schritte lauschte.

Und dann erkannte ich die Person, die plötzlich in ihrer Bewegung innehielt und entsetzt auf mein leeres Bett starrte.

„Emily?"

Ein wenig Panik schwang in Julias Stimme mit. Aber nicht annähernd so viel Panik, wie ich empfand. Ich wimmerte leise, wodurch ihr Blick leider sofort zu mir schoss. Ich hatte Angst. Panische Angst! Sie hatten mir verboten, mich selbst zu verletzen! Ich hatte das hier für Vater getan. Warum war nicht Vater gekommen? Warum Julia?

„Du meine Güte, Emily!"

Das Entsetzen in ihrer Stimme war kaum zu überhören. Wieder entfloh mir ein Wimmern und mein Körper begann unkontrolliert zu zittern.

„Was hast du getan, Emily?", fragte Julia scheinbar fassungslos.

Mein Zittern wurde heftiger und ich presste mich voller Angst gegen mein Bett. Sie würde mich bestrafen. Oh nein, sie würde mich ganz sicher bestrafen, denn sie hatten es mir verboten!

Vater. Wo war nur Vater? Ich hatte es doch seinetwegen getan!

„Oh Emily, es tut mir leid, ich hab es nicht so gemeint", schien Julia sich zu entschuldigen, obwohl ich nicht verstand, wofür sie sich entschuldigte. „Bitte, leg das Bild zur Seite, okay? Leg es einfach zur Seite."

Meine zitternden Glieder gehorchten mir nicht. Ich konnte nicht tun, was sie von mir wollte. Meine rechte Hand war verkrampft. Verbissen krallten sich die Finger in das Blatt Papier. Julia, die zunächst in sicherer Entfernung stehen geblieben war, kam mir nun doch beängstigend nahe. Panisch rückte ich auf dem Boden weiter von ihr weg. Mein Atem ging stoßweise, ich bekam kaum genug Luft.

„Beruhige dich, Emily. Es ist alles okay. Leg einfach nur das Bild zur Seite."

Mein Herz raste, der Schwindel wurde immer schlimmer. Keuchend rang ich nach Atem. Ich hatte gegen ihr Verbot verstoßen. Dabei hatte ich doch nur tun wollen, was Vater verlangte! Warum war hier nur alles so schrecklich kompliziert und schwierig? Aber Vaters Regeln waren Gesetz. Ihre Regeln galten nicht mehr. Sie galten nicht mehr, seit Vater hier war!

Lost GirlWo Geschichten leben. Entdecke jetzt