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Wie vom Blitz getroffen schoss Julia aus dem Schlaf hoch.

„Ihre Übungen!", sprach sie ihre Gedanken laut aus.

Emily hatte mit Lilly über ihre Übungen gesprochen. Sie war am vorigen Morgen ganz offensichtlich nicht aus dem Bett gefallen, sondern mit Absicht und ganz bewusst aufgestanden. Sie hatte Übungen gemacht. Kniebeugen und Liegestützen. Verdammt, Julia musste unbedingt verhindern, dass Emily das wieder tun würde.

Schlagartig war sie hellwach, griff nach ihrem Handy und sah auf die Uhr. Diese zeigte 5:35 Uhr an. Vielleicht war das noch zu früh, doch Julia würde nun ohnehin nicht mehr schlafen können. Also beschloss sie aufzustehen und sich direkt auf den Weg ins Krankenhaus zu machen.

Jemand musste da sein, wenn Emily aufwachte. Denn Julia hatte den Verdacht, dass das Mädchen die Übungen jeden Morgen machte. Mit ziemlicher Sicherheit war das eine ihrer Regeln. Doch in ihrem Gesundheitszustand war Emily nicht annähernd fit genug. Sie würde erneut zusammenbrechen. Oder noch schlimmer: Aus Angst vor einer Strafe würde sie es durchziehen bis zum bitteren Ende – ganz egal, welche Konsequenzen das für ihren Körper und ihre Gesundheit haben würde. Julia durfte das nicht zulassen.

Keine fünfzehn Minuten später stand sie bereits im Aufzug des Hotels und befand sich auf dem Weg ins Krankenhaus. Sie hoffte nur, dass sie nicht zu spät kommen würde. Sicherheitshalber hatte sie auch das Krankenhaus informiert, sodass eine Schwester nach Emily sehen konnte.

„Bitte, Emily, mach nicht diese Übungen. Verdammt, jetzt fahr schon schneller!", schnauzte Julia den Fahrstuhl an, bis dieser endlich seine Türen öffnete und sie wieder ausspuckte.

Julia zögerte nicht lange, rannte am Empfang vorbei und stieg in das Taxi, das sie sich nach dem Aufstehen bestellt hatte.

Nervös saß sie in dem Wagen und zählte die Sekunden. Dieser Tag war so unendlich wichtig! Emily würde das erste Mal nach elf Jahren ihre Eltern wiedersehen, die sie überhaupt nicht mehr kannte. Nichts durfte schief gehen. Überhaupt nichts. Und Emily sollte in der nötigen körperlichen Verfassung sein, um ihren Eltern zu begegnen. Julia wollte den beiden – und der kleinen Schwester – nicht noch einmal sagen müssen, dass sie ihre lange verloren geglaubte Tochter und Schwester nicht sehen konnten. Nein, heute würden die vier sich endlich treffen. Julia würde alles dafür tun, um diese Begegnung zu ermöglichen.

~

Es war nicht richtig hell, aber es war auch nicht mehr dunkel. Was bedeutete denn das? Ich verstand nicht, wie Tag und Nacht hier funktionierten. Es wurde so langsam hell. Wann sollte ich denn meine Übungen machen? Erst, wenn es richtig hell war? So hell, wie es in meinem Zimmer morgens geworden war, wenn Vater das Licht angemacht hatte?

Überfordert sah ich zu der großen Lampe, die die Menschen hinter dem gelben Tuch versteckt hatten. Sie leuchtete noch nicht wirklich. Sollte ich vielleicht warten, bis sie wieder so hell war wie gestern?

„Du bist wach und es ist nicht mehr dunkel. Also ist es vermutlich nicht mehr Nacht", tauchte Lilly plötzlich auf. „Ich denke, du solltest deine Übungen machen. Sonst bist du wieder zu langsam. Und du weißt, was dann passiert."

Traurig sah ich sie an. Ja, ich wusste, was dann passierte. Zumindest bei Vater. Er würde mich verprügeln oder wenn er ganz wütend war sogar auspeitschen. Oder er würde von mir verlangen, dass ich mich selbst bestrafte. Mit dem Messer oder der Peitsche. Es gab so viele Möglichkeiten. Aber die Menschen hier hatten bisher keine einzige davon angewandt. Ich verstand es immer noch nicht und hatte panische Angst vor dem Moment, in dem sie damit beginnen würden.

Als die Panik langsam mehr wurde, wusste ich, dass ich tun sollte, was Lilly sagte. Wenn ich nur nicht so schrecklich dringend pinkeln müsste! Die halbe Nacht war ich deshalb wach gelegen. Es gab in diesem Zimmer keine Toilette. Wie sollte ich denn auf die Toilette gehen?

Lost GirlWo Geschichten leben. Entdecke jetzt