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Julia ging das Herz auf. Es war so herzerwärmend, wie Emily in den Armen ihrer Mutter lag! Zwar spürte Julia auch Eifersucht und so etwas wie Trennungsschmerz. Sie wünschte sich, dass sie es wäre, die Emily diese Liebe und Geborgenheit schenken durfte. Aber es war gut und unheimlich wichtig für Emily, dass sie Vertrauen zu ihrer Mutter aufbaute. Julia hatte von Anfang an gewusst, dass der Moment kommen würde, in dem die Familie für Emily wichtiger werden würde als sie. Der Moment, in dem sie das Mädchen, dem sie all die Liebe geschenkt hatte, die noch vor drei Jahren ihrer eigenen Tochter gegolten hatte, würde loslassen müssen. Julia war an diesem Fall drangeblieben, um Emily zu retten und ihr ein glückliches Leben zu ermöglichen. Wenn sie das geschafft hatte, war der Fall für sie abgeschlossen – in der Theorie. Ihr Herz war leider ganz anderer Meinung. Sie konnte sich nicht vorstellen, Emily jemals wieder zu verlassen. Die Kleine hatte sich in ihr Herz geschlichen und sich dort eingenistet. Sie würde nie wieder daraus verschwinden.

Tränen traten in Julias Augen, während sie Mutter und Tochter beobachtete. Emily hatte sogar die Augen geschlossen! Sie schloss niemals die Augen, solange sie in Gesellschaft von anderen Menschen war! Dazu war ihre Angst immer zu groß, dass irgendetwas passieren könnte. Dass sie nun die Augen geschlossen hatte, musste bedeuten, dass sie ihrer Mutter vertraute. Sie schien keine Angst zu haben! Der Gedanke erfüllte Julia trotz all ihrer Eifersucht mit purer Freude. Emily hatte es so sehr verdient, einmal einen Moment abschalten zu können. Einen Moment ohne Angst erleben zu dürfen. Sich einen Moment lang wohlfühlen zu können.

Emily saß reglos auf dem Rollstuhl und hatte ihren Kopf auf Frau Neumanns Schulter abgelegt. Während ihr Körper zu Beginn noch steif und angespannt gewirkt hatte, schien er sich inzwischen zu entspannen. Emily erwiderte die Umarmung nicht. Vermutlich wusste sie gar nicht, dass man das tun konnte oder wie man das tat. Hatte ihr Entführer sie jemals auf diese Art umarmt? Emily hatte ihre Mutter sofort verdächtigt, Sex mit ihr haben zu wollen, nur weil sie sie umarmen wollte. Das schien der einzige Zusammenhang zu sein, aus dem sie eine Umarmung kannte. Und in diesen Momenten erwiderte Emily die Umarmung ihres Entführers ganz bestimmt nicht. Doch auch wenn sie sie nicht erwiderte, Emily schien die Nähe ihrer Mutter zu genießen und das war alles, was zählte.

Julia schluckte den Neid auf die Mutter herunter. Den Neid, dass sie ihre Tochter nun zurückbekommen hatte. Dass ihre Tochter in ihrem Armen lag – etwas, was Julia nie wieder vergönnt sein würde. Sie schluckte all das herunter und versuchte stattdessen, sich einfach für Emily zu freuen. Denn für das Mädchen war es einer der größten Erfolge, die sie seit ihrer Rettung zu verzeichnen hatte. Sie war bereits so weit gekommen, sie hatte so viel erreicht! Julia war guter Dinge, dass es von nun an nur noch aufwärts gehen konnte. Emily hatte endlich begriffen, dass es Menschen gab, denen sie vertrauen konnte. Und Vertrauen war das Wichtigste für ihre weitere Entwicklung. Es war die Grundlage für alles, was noch auf sie zukommen würde.

Julia konnte nicht sagen, wie lange die Umarmung gedauert hatte. Die Zeit war stillgestanden, Sekunden und Minuten hatten keine Bedeutung gehabt. Irgendwann hatte Frau Neumann ihre Tochter wieder losgelassen und sie voller Glück und Freude angestrahlt. Und Emily – sie hatte zurück gelächelt. Zwar zögerlich, aber sie hatte gelächelt! Julia konnte noch immer nicht in Worte fassen, was sie fühlte, wenn Emily lächelte. Es war überwältigend.

Um das Mädchen nicht zu lange der Sonne auszusetzen, hatten sie schließlich beschlossen, wieder zurück nach drinnen zu gehen. Emilys Haut hatte elf Jahre keine Sonne gesehen. Sie hatte keinerlei Schutz vor den UV-Strahlen.

Auf dem Weg zurück ins Zimmer sah Emily wieder nervös von links nach rechts. Bei jedem Menschen, dem sie begegneten, zuckte sie zusammen und krallte sich fester an Lilly auf ihrem Schoß. Ihre Anspannung schien von Meter zu Meter zu wachsen, während Sarah fröhlich neben ihr her hüpfte und davon schwärmte, wie schön es draußen gewesen war. Sie fragte Emily, wie es ihr gefallen habe und Emily antwortete nur knapp, dass es schön gewesen sei. Offensichtlich konnte sie sich kaum auf das konzentrieren, was ihre Schwester sagte. Sie behielt ihre komplette Umgebung im Blick, wollte kein Detail übersehen, jede Gefahr sofort erkennen. Es tat Julia in der Seele weh.

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