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Am Ende der Fahrt war Emily doch eingeschlafen. Die Erschöpfung hatte gesiegt und das monotone Motorengeräusch hatte sie in den Schlaf gesungen. Julia war dankbar, dass die Kleine wenigstens ein wenig Ruhe fand, bevor sie im Krankenhaus ankamen. Denn ihr war nur allzu bewusst, dass das Krankenhaus eine neue Herausforderung werden würde. Es graute ihr vor dem Moment, in dem sie ankommen würden. Wie würde Emily reagieren, wenn man sie in einen Rollstuhl setzte? Wenn man sie durch Türen schob? Zurück in ihr Zimmer, das für sie mit nichts als Lügen verbunden war?

Als sie sich dem Krankenhaus näherten, begann Julias Herz schneller zu schlagen. Doch sie konnte nicht verhindern, dass sie schließlich ankamen. Kaum war der Wagen angehalten und das Motorengeräusch verstummt, schoss Emilys Kopf in die Höhe. Sie schien schlagartig hellwach zu sein und sah sich nervös zu allen Seiten um. Wie auf Knopfdruck begann sie zu zittern. Oh Julia wünschte sich so sehr, dass sie ihr helfen konnte! Aber wie? Wie sollte sie diesem Kind nur helfen?

„Keine Angst, Emily. Wir sind zurück im Krankenhaus."

Emilys Augen weiteten sich. Wie befürchtet war dieses Wort nicht unbedingt eines, das das Mädchen beruhigen konnte.

„Es ist alles gut. Niemand wird dir wehtun. Denk daran, es hat dir auch bisher niemand im Krankenhaus wehgetan."

„Weil ihr wusstet, dass Vater mich bestrafen wird", krächzte Emily verängstigt.

Entsetzt sah Julia sie an. Das glaubte sie?

„Nein, Emily. Nein!", entgegnete sie umgehend. „Das stimmt nicht. Weißt du, ich habe das vorhin ernst gemeint, wir haben dich nicht angelogen. Der Mann, den du Vater nennst, hat dich angelogen. Wir wollten dir nie wehtun. So etwas macht man nicht. Man bestraft Kinder nicht mit Schmerzen. Das ist sogar verboten."

Emily sah sie verständnislos an. Was Julia gesagt hatte, schien für sie überhaupt keinen Sinn zu machen. Zitternd drückte sie sich gegen das Fenster in ihrem Rücken.

Die Fahrerin hatte glücklicherweise von Emilys Angst mitbekommen und war noch nicht ausgestiegen. Jede Bewegung, jedes unerwartete Geräusch könnte Emily in Panik versetzen. Sie schien ihre ganze Umgebung im Blick zu behalten und stand schrecklich unter Strom. Lena auf der Rückbank schlief noch. Julia war dankbar darum, denn so musste sie sich auch um eine Störung von hinten keine Gedanken machen.

„Okay, wir werden jetzt gleich aussteigen und dann bringen wir dich zurück in dein Zimmer. Aber du musst keine Angst haben. Dort wartet keine Strafe auf dich, du hast nichts falsch gemacht. Nur deine Ärztin wird kommen, um nach dir zu sehen. Wir müssen sichergehen, dass dein Ausflug dir nicht geschadet hat. Anschließend werden wir dich in Ruhe lassen, wenn du das möchtest. Dann kannst du noch ein bisschen schlafen."

Julia hatte sich bewusst darauf konzentriert, keine Frage zu stellen, denn sie befürchtete, dass das Emily überfordern würde. Sie wusste, dass Emily auf jede Frage antworten musste und sie niemals lügen durfte. Wie sollte sie Julia schon antworten, wenn sie fragte, ob das okay wäre? Emily wollte ganz bestimmt nicht zurück ins Krankenhaus. Aber sie durfte sich auch nicht widersetzen. Sie wäre in einer Zwickmühle, wie schon so oft zuvor. Das wollte Julia Emily ersparen.

„Gut, dann versuchen wir das jetzt. Ich werde die ganze Zeit bei dir sein. Dir kann nichts passieren."

Emily wirkte verunsichert. Sie schien nicht zu wissen, was sie glauben sollte. Als Julia zur Tür griff und sie öffnete, zuckte das Mädchen zusammen und drückte sich noch ein wenig fester an die Wand in ihrem Rücken. Ihre Atmung wurde unruhiger.

Julia war angespannt. Emilys Nervosität übertrug sich auf sie selbst. Hoffentlich ging der Weg bis zu Emilys Zimmer gut! Hoffentlich erlitt die Kleine nicht unterwegs einen Panikanfall oder einen Nervenzusammenbruch! Julia wollte Emily einfach nur zurück in ihr Zimmer bringen, wo sie sich in Ruhe von dem Schrecken der Nacht erholen konnte.

Lost GirlWo Geschichten leben. Entdecke jetzt