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Der kühle Septembermorgen versprach sich zu einem warmen Altweibersommertag zu entwickeln.

Alana saß an ihrem Schreibtisch und tippte schon seit den frühen Morgenstunden in die Tasten ihres Laptops. Hochkonzentriert entwarf sie die Geschichte um einen kleinen Drachen und einem autistischen Mädchen, die gemeinsam in die Schule kamen. 

Maisie klopfte an die Tür, wie so oft, erfolglos. Kopf schüttelnd trat sie ein.

"Alana, der Fernsehsender BCOne möchte dich gern für ein Tanzformat."

Keine Reaktion. 

Alana tippte noch immer auf der Tastatur und schrieb gerade die Szene wo das Mädchen als komisch bezeichnet wurde.

"Alana," Maisie hielt ihr das Telefon hin, erneut keine Reaktion. "Entschuldigen Sie bitte, wir rufen zurück, Frau Goldmann ist leider beschäftigt." Sie wollte gerade das Zimmer wieder verlassen, als Alana hochblickte. 

"BCOne rief an, weil sie dich als Autistin in ihrer Tanzshow haben wollen."

"Tanzshow?" Alana blickte sie verstört an, als verstünde sie die Worte nicht. "Was für ne Tanzshow?" In ihrem Buch ging es um Schule, nicht ums Tanzen! 

Maisie steckte das Telefon in die Tasche ihrer geblümten Schürze. "Für die neue Staffel von Tanz mit mir, das groß Promitanzen."

"Promitanzen? Seh' ich aus wie ne Hupfdohle? So ein Unfug!" Sie stand auf, zupfte ihren Haargummi aus dem Wuscheldutt und schüttelte ihre braune Mähne kräftig aus, bevor sie sie wieder bändigte. Dann kuschelte sie sich in ihren roten Wollcardigan. 

Als sie sich wieder setzen wollte, schüttelte Maisie den Kopf:" Das Frühstück ist fertig!"

Sie schnappte sich ihre Tasse mit dem letzten Schluck Kaffee und folgte ihr. 

"Moin Onkel Ambrose."

Ambrose Barnabas Goldmann blickte von der Zeitung auf und rückte sich seine Goldrandbrille zurecht: "Guten morgen, mein liebes Kind."

"Irgendein Fernsehsender will mich zur autistischen Hupfdohle machen", brummte Alana, während sie ihren warmen Toast mit Marmelade aß, "so nen Blödsinn."

"BCOne hatte angefragt, ob Alana als erfolgreiche Buchautorin und Autistin bei der kommenden Staffel von Tanz mit mir, mitmachen wollte", erklärte Maisie, die gerade frisch gebrühten Kaffee aus der Küche brachte. 

Ambrose nickte und trank einen Schluck Kaffee. Sorgsam faltete er seine Zeitung und legte sie beiseite. "Ich bin erstaunt, daß du nicht vor Begeisterung herumspringst, sonst liebst du tanzen. Ich bin verwirrt."

"Das hat mit Tanzen nix zu tun. Schau dir mal eine Folge an. Die so genannten Stars sind bestenfalls Sternchen oder so Möchtegernpromis, die in billigen Putzlappen über das Parkett gezerrt werden. Da tanzt ein Nilpferd im Tütü leichtfüßiger!"

Kichernd warf er ein: "Ich würde hier vielleicht noch ein paar mehr Informationen einholen. Wenn der Fokus auf dem Tanz liegt, sollte das eine vergnügliche Zeit für dich werden." 

"Erstmal schreibe ich mein Buch, das hat nämlich eine Deadline und das Lektorat steht dafür noch aus. Danach kümmere ich mich um den anderen Kram. Hab ja sonst keine Hobbies", sie stand auf und drückte ihren Onkel und Maisie.

"Dann habe einen schönen Tag. Ich werde heute länger im Institut bleiben, damit wir die Vorbereitungen für den kommenden Jahreskongress abschließen können. Wie du weißt, findet dieser bereits Mitte November statt."

"Viel Spaß beim Werkeln, Onkel." 

Dann eilte sie zur Tür hinaus.

Zurück an ihrem Schreibtisch atmete sie tief durch und trank einen großen Schluck Kaffee. Dann klickte sie sich durch ihre Musikliste und drückte Play. 

Tschaikowskis Schwanensee erklang. 

Nichts hielt sie jetzt auf dem Stuhl! 

Tippelschritt, Tippelschritt. Halbe Spitze , Bein anwinkeln und Tippelschritt. Auch wenn sie Schwanensee schon länger nicht mehr getanzt hatte, die Schritte, die sie dafür im Kinderballett gelernt hatte, saßen auch nach einigen Jahren noch sehr gut. 

Gut gelaunt setzte sie sich wieder an ihr Buch, denn die Lektorin hatte ihr bereits einen Termin in den Kalender geschickt gehabt, für Anfang Dezember!

Gegen frühen Nachmittag machte sie eine Pause vom Schreiben. Ihr Magen knurrte unüberhörbar und sie hatte bereits eine nette Flaschensammlung auf ihrem Schreibtisch stehen. 

"Der Fernsehsender rief nochmal an", Maisie kochte herrlich duftendes Pflaumenmus. 

Wortlos nahm sich Alana eine Scheibe Brot und einen Löffel, den sie in den Mus tauchte. 

"Heiß! Heiß! Heiß", sie sprang  auf und trank kaltes Wasser aus dem Hahn. 

Maisie stemmte ihre Hände in die Hüften: "Alana! Du bist jetzt vierundzwanzig. Ich koche seit Jahr und Tag Mus und jedes Mal verbrennst du dir die Schnute . Kind, Kind, Kind."

"Schmeckt halt lecker" , maulte sie, während sie eine kalte Kompresse an die Lippen hielt, "kann doch nix für, daß es heiß tausendmal besser ist, als abgekühlt. Da zieht es an , aber heiß ist es so musig." Sie spülte die Kompresse ab und legte sie zurück ins Kühlfach: "Alles wieder gut."

"Um nochmal meinen Satz anzufangen, die wollen bis November einen Antwort."

"Dezember wäre besser. Mein neues Buch hat Prio1. Und meine Arbeit darf auch nicht zu kurz kommen."

"Gutes Stichwort", Maisie ging zur Küchenanrichte, "hier die Post vom Tag. Ich denke, die Einladungen für die Investoren und zum Kongress dürften die spannendsten Dinge heute gewesen sein."

Lächelnd las sie beides nacheinander, dann die Werbung und die sonstigen Briefe, die wie oft, Anfragen für Interviews oder von Wohltätigkeitsorganisationen waren. 

"Ich mag das Papier für den Kongress, das ist so schön weich und die Farbe ist toll! Da geh ich hin!"

"Alles andere hätte mich doch sehr gewundert. Wobei sie auch neue Erkenntnisse im Bereich der altertümlichen Medizin vorstellen werden. Das jedenfalls hatte Ambrose erwähnt."

"Interview für zwei von diesen Autismusaktivistenseiten, die uns heilen wollen . Die lernen es wohl nie - oder?" Ärgerlich zerriss sie die beiden Brief in winzige Schnipsel und pfefferte diese in den Müll. "Ich bin pumperlgesund und Autistin und das ist verdammt gut so!"

"Und damit das so bleibt, gibt es heute Abend Gemüsesuppe mit Tortellini, aber nur, wenn du etwas im Garten hilfst."

Kurz drauf zupfte Alana sorgfältig Unkraut, harkte die Erde und goss die Pflanzen. 

Glücklich lag sie nach getaner Arbeit im Gras und hörte den Vögeln beim Zwitschern zu.

Dance with Me!Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt