Neunundsiebzig

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Die Tage vergingen und Taehyung ging es nicht besser. Er aß kaum noch, wurde wieder dünner und sah wirklich ungesund aus. Es verging kein tag, an dem er nicht weinte. Keine Nacht, die er durchschlief und kein Spaziergang, wo er wegen der schwachen Knie nicht zusammenbrach.
Jungkook konnte es kaum mit ansehen und versuchte seinen Liebsten jeden Tag zu motivieren. Er erfüllte ihm jeden Wunsch und hielt ihn gut fest in seinen Armen.

Heute war es Taehyungs Wunsch, erst seine neue Therapeutin zu besuchen und dann seine Mutter. Wie immer saß Jungkook auch dieses Mal im Wartezimmer und wartete auf das Ende der Stunde. Taehyung zur Liebe würde er alles tun.

„Wenn Sie die Augen schließen und sich jeden Ort der Welt vorstellen könnten, wo befinden Sie sich?" fragte die Therapeuin Taehyung und richtete ihre Klammer, die all das Schwarze, prachtvolle Haar zuknotete. Tief atmete ihr Patient durch. Das hatte er noch nie gemacht. Also schloss er die Augen. „In einem Zimmer" meinte er und lehnte sich zurück. Direkt hob die Dame den Stift und musterte seine Reaktionen aufs genauste. Sei es ein Zucken der Augenlider oder ein Schniefen. Alles würde etwas über sein Wohlbefinden aussagen.
Taehyung hielt kurz inne. „Was ist in diesem Zimmer?" „Es ist kalt" fing er an zu erklären. „Hier sind keine Fenster und nur eine einzelne Glühbirne hängt an der wand." Taehyung atmete tief durch. Er wusste, wo er sich befand. „Sie rauscht laut." Die Therapeutin fing an zu schreiben und richtete ihre Position. Den Cardigan zog sie sich vor der Brust zusammen und forderte auf, Taehyung dieses Zimmer weiter zu beschreiben. „Hier steht ein Bett, ein Tisch und ein Regel, gefüllt mit wenigen Büchern" erzählte er und atmete tief durch. Dieses Zimmer betrat er schon so lange nicht mehr, dennoch sah er es so scharf vor Augen, als würde er drinnen stehen. „Und wissen Sie, wo sich dieses Zimmer befindet?" Taehyung antwortete nicht. „Jungkook ist hier" meinte er nur.
Der Kuli kratzte über das Papier, während der Patient die Augen wieder öffnet. Ernst musterte er sie. „Bin ich krank?" fragte er leise und spielte mit den Händen. Die Therapeutin lächelte. „Ich denke nicht" erzählte sie und legte den Stift ab, nachdem sie den Satz beendete. Sie blickte kurz auf ihre Armbanduhr. „Sie zeigen Anzeichen eines Traumas" erklärte sie Taehyung dann. „Kein schweres Trauma, aber es scheint, dass jemand sie eine Zeit lang schlecht behandelt hat." Langsam nickte Taehyung. „Und wie kann ich das loswerden?" Er war voller Hoffnung. Einfach wieder glücklich wollte er sein, wieder normal essen und schlafen können. Ruhig im Bett liegen und den Kopf frei von allem wünschen.
Auch frei von dem Wunsch des Nichts.

„Loswerden kann man sowas nicht" sprach die Therapeutin ernst. „Aber vergessen und verarbeiten können Sie es." Sie deutete auf die Uhr. „Wir können da gemeinsam dran arbeiten, wenn wir noch einen Termin vereinbaren" meinte sie und öffnete ihren Kalender. Tief atmete Taehyung durch und versuchte sich zu sammeln. Ja, vielleicht wäre es nicht so eine schlechte Idee. Somit vereinbarte er einen Termin und schloss seine Jacke, die er gar nicht erst ausgezogen hat.

Escape - KOOKV Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt