Kapitel 8

4.1K 258 9
                                    

Wiegenlied
Kapitel 08

In diesem Moment war ich wie benebelt. Ich wusste weder, was geschehen war, noch wie es dazu kam. Mein Herz hatte ausgesetzt und sein Duft umhüllte meine Lunge, während meine Augen immer noch viel zu weit offen waren.

Eine Sekunde oder vielleicht zwei- mehr waren es nicht, aber sie sorgten dafür, dass ich mich fühlte wie versteinert und als Burak mich losließ und einfach ging, als sei nichts passiert, starrte ich immer noch auf denselben Fleck.

Alles war verstummt. Auch im Büro von Cesur kam kein Laut. Was war danach noch einmal passiert? Genau. Burak war gekommen und er hatte mich rausgebracht- mich umarmt. Ich hatte es nicht erwidert. Ich hatte ihn aber auch nicht weggeschubst.

Verdammt. Wieso? Ich fuhr mit meiner Hand durch mein Haar und sah nach Burak, doch er war schon weg. Jetzt schlug mein Herz wild und ich kannte dieses Gefühl.

Ich atmete laut aus und wurde sauer auf mich. Wieso hatte ich nicht reagiert? Wieso hatte ich ihn nicht gegen die Wand geknallt? Wenigstens hätte ich ihm Distanz zeigen können. Nicht einmal das schaffte ich.

Wieso hatte mir dieser Kerl überhaupt geholfen? Besser war gefragt: wieso wieder? Ich lief wieder die Treppen hinunter, aber auf meine Schicht hatte ich keine Lust. Ich war zu aufgewühlt und darauf war ich noch wütender. Wie schaffte das dieser Typ mich so aus meiner Rolle zu bringen?

»Wo ist Ecrin?«, hörte ich die Stimme von Mahmud zischen. Sofort war ich wieder in die Realität geworfen. Ich war sauer, aber nicht mehr auf mich, sondern auf diesen Mahmud.
»Am Arsch der Welt«, sprach Liana scharf und ernst aus.
»Red keinen Scheiß«, erwiderte er sofort und packte sie grob am Arm.
»Lass mich los!«
»Oder was?«

Sein Lachen dröhnte mir in den Ohren, als er sie noch fester drückte und dabei schüttelte. »Jetzt sag mir wo-«, doch weiter kam er nicht, denn ich tippte ihn von hinten an und als er sich umdrehen wollte, um nachzusehen, wer ich war, hatte ich meine Hand schon zur Faust geballt und ihm gegen sein Gesicht geschlagen. Er taumelte zurück.

Das hatte er bestimmt nicht erwartet. Mit seiner Hand hatte er dabei seine Nase gedeckt und alles geschah so schnell.

Vor einer Sekunde war ich noch oben und jetzt stand ich da und deutete auf den Ausgang, während ich: »Raus!«, schrie.

»Was glaubst du, wer du bist?«
Er hatte sich gerichtet und das komische war, ich hatte keine Angst.

»Mahmud!«
Es war die Stimme von Cesur. »Was ist hier los?«

»Deine Angsestelltin schlägt mich«, zischte er als Antwort.
»Aslı?«
Nö Liana. Deshalb zeigte er auf mich.

»Das kann ich kaum glauben«, meint Cesur und kam näher zu uns.
»Wieso, willst du etwa dieser Furie glauben, statt mir?«
»Wir beide wissen genau, wem ich glaube.«
»Heißt das, mir nicht?«, fragte Mahmud, die Hände zu Fäusten geballt.

Liana sah mich mit einem hilflosen Blick an. Ich deutete mit meinem Kopf unbemerkt, dass sie gehen sollte. Ich hatte das verbrockt. Ich sollte das ausbaden. Sie tat, was ich wollte und ging unauffällig in die Küche.

Eine Kundin kam gerade rein. Sie wollte sich hinsetzen, da brüllte Cesur wie ein Tier: »Wir haben geschlossen!«

Sie zuckte kurz, stand abrupt auf und lieg sofort raus. Diese Aktion hatte ich jetzt nicht erwartet.
»Ich hab dich etwas gefragt«, erinnerte Mahmud Cesur.
»Etwas mehr Respekt. Du vergisst, dass vor dir immer noch dein Vater steht!«
Was? Wollten die mich alle verarschen? Wer war hier noch mit wem verwandt?

Mahmud zischte etwas unverständliches, als Cesur wieder zu mir blickte. »Aslı, und du gehst. Sofort!«

Die Schärfe in seinem Ton war bitter. Ich ließ es mir nicht zweimal sagen und verschwand sofort aus der Tür. Wo Ecrin wohl war?

An der Bushaltestelle versuchte ich sie zu erreichen. Doch sie nahm nicht ab. Die ganze Sache machte mich verrückt. Mein Handy klingelte und ich nahm ab, ohne nachzusehen, weil ich dachte, es sei Ecrin.
»Aslı?«
»Darf ich fragen, woher du meine Nummer hast, Liana?«
»Top-Secret.«
»Was ist?«
»Wieso hat er dich rausgeschmissen?«
»Weil ich seinen Sohn geschlagen habe?«
Wieso mir das je niemand erzählt hat, was mir nicht klar, aber was soll's.

»Mhm«, machte sie nachdenklich.
»Ich bin rausgeworfen worden.«
»Hat er das Wort wörtlich gesagt?«
»Nein, aber was würdest du tun, wenn ich deinen Sohn schlagen würde?«
»Er hasst Mahmud.«
»Ich glaube, das ändert nicht viel.«
»Ich schon.«
»Weißt du, wo Ecrin ist?«, fragte ich.
»Zu Hause. Ich glaube, es ist gut, wenn du nach ihr siehst. Ich rufe dich später wieder an. Tschau.«
»Tschau.«

Die Leitung wurde unterbrochen und ich ließ mein Handy wieder in meine Hosentasche fallen, während ich in den Bus stieg. Es war fast leer. Wie mein Inneres. Ich fühlte mich nicht einsam. Ich fühlte mich nicht wohl. Es war eine Mitte. Doch da fehlte etwas.

Zum ersten mal klingelte ich bei Ecrin an. Eine Frau öffnete die Tür. Sie war braun gebrannt und hatte tiefschwarzes zurückgebundenes Haar. Ihre Augen waren grünlich.
»Ich bin Aslı«, stellte ich mich vor. »Die, die neu eingezogen ist.«
»Ah, Ecrin hat mir einiges über dich erzählt«, freute sie sich.
»Ist sie da?«
»Ja, komm doch rein.«
Kaum hatte ich einen Schritt hineingewagt, fühlte ich mich schon geborgen.
»Sie ist in ihrem Zimmer.«

Ich nickte, während sie mir ihr Zimmer zeigte. »Danke«, flüsterte ich leise und klopfte.
»Ich will keine Suppe, Anne (Mama)«, entgegnete sie. Ich betrat ihr Zimmer und sie stand von ihrem Bett aus.
»Erstens hi«, nuschelte ich. »Zweitens, warum bist du hier? Drittens, hab ich den Sohn unseres Cheffes kennengelernt und viertens, gibt es noch weitere Verwandtschaften, von denen ich Bescheid wissen sollte?«

Ecrin lachte schwach. »Erstens, danke, dass du hier bist.«
Sie warf sich in meine Arme, ich erwiderte die Umarmung, während sie mich noch fester drückte. »Zweitens ging es mir nicht gut, deshalb bin ich hergekommen. Liana wollte es dir sagen, nachdem du beim Chef wärst. Ich wollte dich wieder abholen, wenn deine Schicht zu ende war.«
Sie löste sich von der Umarmung und sah mich entschuldigend an. »Drittens, sorry. Ich hätte dir das mit Mahmud sagen müssen. Nur hab ich ihn so gehasst. Ich wollte ihn nicht einmal nennen. Viertens, ich glaube nicht, dass es weitere Verwandtschaften gibt, von denen du nichts wüsstest und fünftens, komm setz dich.«

Ich setzte mich zu ihr. Ecrin schien nervös. Sie wollte mir etwas erzählen, dachte aber trotzdem nach, es nicht zutun. »Also, Cesur hat mich zu sich gerufen, bevor du bei ihm warst. Er hat mich über dich Sachen gefragt. Meistens über deine Eltern und ich habe höflich gesagt, dass ich es ihm nicht sagen könnte, weil es dich betrifft und du zu entscheiden hast, wem du es anvertraust. Er hat mich versucht, unzustimmen. Dauernd meinte er, er müsste seine Angestellten doch kennen.«

»Er hat trotzdem kein Wort aus dir bekommen.«
Es klang wie eine Drohung. Sollte es aber nicht.

»Keine Sorge. Hat er nicht.«
Sie lachte kurz. »Das lustige war ja, dass ich mehr als 80 Prozent seiner Fragen sowieso nicht wusste.«

Stille. Was sollte ich darauf sagen?
»Willst du noch etwas wissen?«, fragte sie mich, nur um die Stimmung zu lockern. »Nicht, dass du dann wieder einen Schock verpasst kriegst.«
»Wie heißt du mit Nachnamen?«
»Koç«
»Und Liana?«
»Lilier« Da war aber jemand kreativ, sein Kinf Liana Lilier zu nennen.

»Und... Burak?«, fragte ich vorsichtig.
»Çetin.«
Was? Çetin? Wieso gerade dieser Nachname?

»Und du?«, fragte sie mich plötzlich.
Ich wurde wieder in die Realität geschleudert. »Evren.«
»Und deine Tante?«
»Auch Evren.«
»Das heißt dann, sie ist von der väterlichen Seite, oder?«
»Ja«
Eigentlich nicht... Diese Lüge würde rauskommen. »Nein.«
»Wie jetzt?«
»Meine Eltern hatten einen Konflikt.«
Ich wusste nicht, wieso ich das erzählte, ich tat es einfach. »Sie sind geschieden. Das hat mich hart getroffen-«

Ich rang nach Worten, doch sie befreite mich davon. »Du musst das nicht erzählen.«
Ich lächelte sie dankbar an und da klopfte die Tür.
»Ja?«, fragte Ecrin.

Ihre Mutter kam herein und lächelte uns beide an. »Burak ist vor der Tür. Er möchte mit dir reden, Ecrin.«
Mit diesen Worten verschwand sie schon. Ich wurde sofort unruhig.
»Alles okay, Aslı? Du bist so rot?«
Oh nein. Das war eine Sache, die Aslı gut konnte. Rot werden.

WiegenliedWo Geschichten leben. Entdecke jetzt