Kapitel 24

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Wiegenlied
Kapitel 24

»Wohnt er denn sehr weit weg?«, fragte ich eher unauffällig.
Ecrin schüttelte den Kopf, sagte mir die Adresse und dass man von hier nur zwei Haltestellen brauchte. Total unauffällig. Als sei ihre Beschreibung eine stille Bitte.

Danach winkte sie mir zum Abschied, weil ihr Vater auf sie wartete und verließ das Apartment. Ich schloss nebenbei die Wohnungstür auf und versuchte meinem Gewissen immer noch einzureden, dass ich gar keine Schuld hätte und dass die Tatsache, dass er ein Arschloch war, ihn so weit gebracht hätte.

Es klappte nur nicht.

Meine Gedanken waren bei so vielen Sachen gleichzeitig, dass ich nicht einmal mehr richtig konzentriert nachdenken konnte. Wo war Neslihan überhaupt? Konnte sie nicht einfach auftauchen und dann sozusagen ausschließen, dass ich dorthin marschiere?

Ich nahm ein Blatt Papier und schrieb darauf in Großbuchstaben, dass ich weg und bis zum Abend nicht wieder da wäre. Was sie konnte, konnte ich auch.

Ich tippte in meinem Handy die Adresse ein und wusste schon, wie ich dorthin kam. Es war wirklich nicht weit weg. Das Schlimme war, Ecrin wusste wahrscheinlich, dass ich zu ihm gehen würde, ansonsten hätte sie ja nicht die Bushaltestelle erwähnt. Sie fuhr ja nie Bus. Ich könnte meinen Kopf gegen alle Wände knallen.

Mit diesem bedrängenden Gefühl lehnte ich mich an den Zahn, nahe der Bushaltestelle und fragte mich, ob ich das wirklich tun sollte- ob ich mir das antun wollte.

Wieso konnte ich nicht so sein wie früher? Wieso konnte ich mich nicht einfach wieder vom Rest der Welt trennen und nur zu meinem Kampftraining gehen? Damals hatte ich Neslihan behauptet, ich wolle nur lernen, wie man sich verteidigt, aber so war es micht. Aus diesem Grund wäre ich dorthin niemals gegangen, dessen war ich mir bewusst.

Ich war in einem erbärmlichen Zustand und ich wollte Schmerz spüren, ich wollte spüren, wie man in mich einschlug und ich wollte diese Kraft bewältigen. Nun klang das für mich als das dämlichste der Welt, aber ich war damals klein und ich war kaputt, ich war wie gestorben und so verzweifelt wie ich war, hätte ich mich wahrscheinlich selbst kaputt gemacht, wenn Neslihan nicht da wäre.

Wie töricht ich war. Wie undankbar. Wo sie so viel für mich tat, hatte ich meinen Morgen im Revier verbracht und würde jetzt zu Burak gehen. Nur was sollte ich anderes tun? Ich konnte ihr ja nicht helfen.
Das ließ sie nicht zu.

Der Bus kam und ich setzte mich auf den erstbesten Platz. Uff, wie sollte ich denn bitte einfach vor Burak auftauchen? Wie peinlich war das denn? Na ja, vielleicht würde er auch einfach die Tür vor meiner Nase knallen und ich wäre von diesem Elend befreit.

Nun... Er tat es nur nicht.

Als ich geklingelt hatte bei ihm, wurde ich nervös und begann mit meinem Haar zu spielen. Es dauerte eine kleine Weile, bis Burak die Tür öffnete. Sein Gesichtsausdruck war der, den ich erwartet hatte. Er war geschockt, dann aber machte er Platz, um mir zu zeigen, dass ich reinkommen sollte.

»Warum bist du hier?«, fragte er.
»Ich hab gehört, du bist krank und deine Mutter ist nicht zu Hause.«
»Ich bin kein Kind«, nuschelte er und da betrat ich die Wohnung. Er schlenderte zum Wohnzimmer und setzte sich auf das Sofa und ich mit ihm. Seine Decke und sein Kissen waren auch hier. Auf dem Tisch lag eine leer getrunkene Tasse.

»Wieso liegt du nicht auf deinem Bett?«, fragte ich leise und fühlte mich schuldig und furchtbar dumm. Erst den Jungen krank machen, dann bei ihm auftauchen.
»Weil ich fernsehen wollte«, kam von ihm, als er wieder aufstehen wollte und ich ihn aufhielt, in dem ich ihn am Arm packte. Meine Augen rissen weit auf. Buraks Mutter machte sich nicht umsonst Sorgen. Ich spürte sofort, wie die Hitze, die von ihm ausging, meinen Körper durchstreifte. »Burak, leg dich hin, du bist ja am Brennen!«

WiegenliedWo Geschichten leben. Entdecke jetzt