Kapitel 48

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Wiegenlied
Kapitel 48

Ich streifte mit den Fingern leicht über die Narbe und versuchte, nicht in Tränen auszubrechen. Auch wenn ich es irgendwie schaffen würde, alles hinter mir zu lassen und die Vergangenheit zu vergessen, diese Narbe würde sie mir immer vor Augen halten.

Ich spürte, wie sie von meinem Schlüsselbein weiter zur Schulter gezogen wurde, als sei es heute gewesen, spürte den Schmerz, das Entsetzen, die Wendung in meinem Leben, die mich zu der heutigen Person gemacht hatte. Ich spürte Hass.

Ich hatte gehofft, sie würde ausheilen. Meinen Blick hatte ich immer extra von ihr ferngehalten, nach dem Duschen extra nicht hingeschaut, so gut es ging, immer etwas angezogen, was es verdeckte, beim Umziehen ignoriert, als wäre es nicht da. Das war es aber und das könnte ich auch in zehn Jahren nicht leugnen.

Ich blinzelte mehrere Male, um die Tränen zu unterdrücken, was mir schwer gelang und betrachtete das Kleid. Es war so wunderschön, schöner als alles andere, was ich je getragen hatte.
Was sollte ich tun?

Selbst wenn ich auf diesem Ball erscheinen würde, wie sollte ich diese Narbe verdecken? Ich konnte schlecht eine Jacke darüber tragen und ein Schal würde nicht zum Kleid passen.
Nicht einmal das konnte ich, schloss es mir aus dem Kopf. Ich konnte nicht einmal ein Kleid tragen, welches mir gekauft wurde.

Warte.
Gekauft? Verdammt. Stand Burak nicht sowieso unter Geldproblemen? Das Kleid sah wirklich nicht billig aus. Wie konnte er es wagen, mir es zu kaufen und erwarten, ich würde es annehmen? Ich meine... Wieso war ich so blöd und kam jetzt erst darauf? Wieso machte es mir dieser Junge auch so schwer?

Meine Gedanken wurden von dem Schlüsselgeräusch, der die Haustür öffnete, unterbrochen. Wahnsinnig schnell zog ich das Kleid aus und packte es wieder ordentlich in die Kiste, die ich in meinem Schrank verstaute.
Danach lief ich auch schon auf Neslihan zu, die gerade in die Wohnung kam.
»Ich hab so großen Hunger«, sagte sie Beiläufig. »Lass uns eine Pizza bestellen.«
»Okay, ich hol kurz das Telefon aus meinem Zimmer«, erwiderte ich, woraufhin sie schon an mir vorbei ging und nur noch kurz, »Mach ich schon!«, rief.

Daher setzte ich mich einfach ins Wohnzimmer und wollte gerade den Fernseher anschalten, als Neslihan in den Raum hereinstürmte. In ihrer Hand hielt sie das "Heft" von Kaan über Neslihan oder besser gesagt das, was davon übrig geblieben war, in der Luft und fuchtelte damit herum. »Was ist das?«
Ich seufzte. »Das ist Mist.«
»Mist über mich?«
»Das ist ein Heft von Kaan, dem Typen, der mir auch das Laptop mit dem Video von dir und meiner Mutter gezeigt hatte«, erklärte ich in aller Ruhe.

Inzwischen hatte sich Neslihan zu mich gesetzt und blickte mit gerunzelter Stirn auf die Theorien von Kaan. »Du weißt, das könnte ernst werden.«
»Ernst? Das, was der schreibt, ist nur unüberlegtes Zeug!«
»Ja, aber wer weiß das schon außer du und ich? Aslı, stell dir vor, der geht damit zur Polizei. Wir können uns keine Untersuchung leisten. Auch wenn du und ich wissen, wie bescheuert diese Theorien sind, die Polizei weiß es nicht und irgendwie hätte das alles ja hinhauen können. Ich meine, wenn man unsere Geschichte nicht kennt, klingt das nicht so absurd.«
Ich ließ meinen Blick sinken und dachte nach.
»Wieso hast du es mir nicht gesagt?«
»Neslihan, ich hab es ehrlich nicht für erwähnenswert gehalten. Man kann doch nicht einfach zur Polizei marschieren und irgendeinen Mist reden, ohne Beweise zu haben. Ich-«
»-Ist schon gut«, lächelte sie sanft. »Ich regle das schon- irgenwie.«
Ich legte meinen Kopf auf ihre Schulter und schloss die Augen.

»Bald werden wir wohl leben«, flüsterte meine Tante.
»Wenn es nicht du wärst, die das sagt, würde ich das nicht glauben.«
»Was ist eigentlich los? Ich merke doch, dass da nicht nur dieses Heft ist.«

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