Kapitel 46

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Wiegenlied
Kapitel 46

»Wie war's mit Ecrin?«, fragte Neslihan, als ich nach Hause kam.
»Schön«, antwortete ich knapp und wollte in mein Zimmer.
»Achso«, entgegnete da Neslihan. »Nur komisch, dass Ecrin die ganze Zeit im Apartment war.«
Wie machte sie das bloß? Wie schaffte sie es, einen so leicht zu erwischen?
»Ich-«, ja Aslı, viel Spaß beim Finden einer Ausrede. Ich biss mir fest die Zähne zusammen und gab auf. In solchen Situationen und vor allem, wenn Neslihan mich so stechendem Blick ansah, bekam ich eine Sperre und konnte nicht überlegen. Deshalb entschied ich mich einfach, die Wahrheit zu beichten. »Ich hab dein Telefonat gehört und wollte nicht, dass du dich gezwungen fühlst, mit mir rumzuhocken.«

Verwunderung zog sich in ihr Gesicht. Sie schüttelte fassungslos den Kopf. »Aslı, mach das ja nie wieder, okay?«
Sie umarmte mich fest und ich fühlte mich wie ein kleines Kind, die ihre Mutter fragte, wie sehr sie sie lieb hätte.
»Du bist wichtiger als alle anderen. Vergiss das ja nicht.«
Sie schaffte es auch immer, dass ich mich wohl fühlte,
»Du auch«, wisperte ich.

Später lag ich auf meinem Bett und starrte die Armbanduhr an, die ich Burak schenken wollte und die Armbanduhr starrte mich an. Mein Grinsen wurde wieder breiter. Ich hatte so eine Vorfreude.

Nachdem ich also die Uhr angestarrt, mich gefreut und mit Mühe die Initialen "A+B" darauf geritzt hatte, beschloss ich, mir noch einmal Kaans Unterlagen über Neslihan anzusehen.

Das, was er geschrieben hatte, wurde sogar noch verwirrender. In den letzten zwei Seiten, die ich mir vorher hatte nicht ansehen können, standen viele Nebeninformationen, die ja stimmten, da waren aber auch Fragen wie "Was hat Neslihan mit der Familie Çetin zutun?". Was sollte bitte Neslihan mit Buraks Familie zutun haben? Das war doch lächerlich. Dazu hatte Kaan intepretiert, dass Neslihan meine Mutter rausgeschmissen hatte, weil sie das Erbe allein haben wollte. Dann hätte sie unsere Familie aufgesucht, die meine Mutter schwer mir meinem Vater aufgebaut hätte, hätte meine Mutter umgebracht, mich hierher entführt und meiner Familie gedroht, dass wenn sie nicht das bekommt, was sie will, ich sterbe.
Lächerlich.

Nein, lächerlich war kein richtiger Ausdruck mehr dafür. Wie- bitte- wie kam man auf diesen Scheiß?
Ich wurde wütend, riss die Blätter in Stücke und warf sie in den Müll. Dachte Kaan das ehrlich? War das ein schlechter Scherz? Bis vor kurzem dachte ich, der Typ würde spinnen, jetzt wusste ich es.

Mir kam wieder in die Gedanken, dass Kaan Ecrins Vater angerufen hatte, von wegen in seiner Nähe wäre ein Entführer. Was war, wenn er das ernst meinte und ihn auf und aufmerksam machen wollte? Kaan dachte das wirklich.

Welcher normale Mensch konnte so etwas von Neslihan erwarten?
Er dachte das wirklich- wirklch! Das war sein voller Ernst! Kaum zu fassen.
Deshalb hatte er mir das Video mit Neslihan und meiner Mutter gezeigt. Deshalb hatte er nicht sofort die Polizei alarmiert.
Deshalb versuchte er unauffällig in mein Leben zu gelangen und wenn er dachte, dass auch Buraks Familie damit etwas zutun hatte, machte es sogar Sinn, dass er mich vor Buraks Augen gezwungen hatte per Nachricht mit Fatih zu tanzen. Er wusste, wie sehr Burak Fatih hasst. Dann machte es auch Sinn, weshalb er auf dem Dach abgehauen war, als er Burak gemerkt hatte.
Dieser Psychopath dachte ehrlich, er würde mir helfen, oder? Konnte das sein?

Ich schüttelte alle weiteren Gedanken bei Seite und versuchte zu Schlafen. Das war genug Verwirrung für heute.
Den Sonntag verbrachte ich bei Ecrin. Am Morgen war sie irgendwie glücklich. Sie hatte das Fenster offen gelassen über Nacht, was ich so naiv fand. Am nächsten Morgen waren dann überall auf dem Boden Blütenblätter, die wir gemeinsam alle aufsammelten, damit es ihre Eltern nicht sahen, das wäre so peinlich.
Dazu stand eine Karte bei einem Strauß Rosen auf ihrem Bett.

»Du bist ehrlich verliebt in Mete, oder?«, fragte ich grinsend.
»Nein. Wie kommst du darauf.«
Wie kam ich wohl darauf? Also wirklich Aslı! »Vielleicht war es ja auch jemand ganz anderes. Auf der Karte stand doch kein Name.«
»Aslı, ich kenne seine Schrift und außerdem ist er früher auch oft durch mein Fenster geklettert. Ist ja nicht schwer von der Höhe. Damals war mein Vater noch gegen unsere Beziehung.« Daran hat sich nicht viel geändert.

Ecrin schien wieder zurück in dieser Zeit zu sein. »Burak und er haben das oft gemacht.«
»Burak auch?«, lachte ich bei der Vorstellung.
»Jap, er vor allem.«
»Das will ich sehen!«
»Interessant, und was soll unser Burak dann in deinem Zimmer so treiben?«
»Du musst auch wieder so denken.«
»Vor allem "wieder"«, schmunzelte sie amüsiert. »Aber ich weiß ja eh, dass du deinen Fatih hast und keinen Burak brauchst.«
»Wieso behaupten das alle!«
Ich und Fatih- nicht in hundert Jahren.
»Dass du nur einen Typen brauchst? Ich wusste ja nicht, dass du zwei brauchst.«
Ich schlug ihr gegen die Schulter. »Mete bringt dich also so sehr in gute Laune, dass du frech wirst.«
»Hör auf, Aslı.«

Der Montagmorgen kam wie immer zu schnell. Ich musste bis zur Pause warten, um Burak die Uhr zu geben, weil ja Ecrin die ganze Zeit dabei war und... Ja, sie sollte nichts falsches denken. Das konnte sie ja ziemlich schnell.
»Wo bleibt eigentlich dein Lover Fatih?«, fragte Liana und zwinkerte mir zu.
»Ich hab nichts mit dem!«, rede ich rasch, nehme das Tablett mit der Bestellung und laufe schnell los. Auf Fatih war ich auch noch sauer. Der Typ hatte mich tatsächlich halb angelogen und meldete sich nicht. Er sollte sich ja auch nicht melden. Dann hätte ich sogar drei Probleme weniger, erstens die Polizei, zweitens den ganze Loverquatsch und drittens eine eifersüchtige Liebhaberin mit dem schönen Namen Anise.

»Burak«, sprach ich lächelnd und hatte hinter meinem Rücken die Uhr in der Hand, als es Pause wurde und wir allein im Raum waren.
»Ja?«, fragte er und irgendwie wollte ich einfach wegrennen. Es war nur ein Geschenk. Wieso machte ich bloß so ein Drama daraus? Wieso? Ich atmete tief ein und aus.
»Was ist, Aslı?«
»Also.«
»Hab ich etwas Schlimmes gemacht?«
»Ne-ein«, zog ich das Wort lang und schluckte. Nur- ein- Geschenk!
»Und du redest trotzdem freiwillig mit mir?«, lachte er.
»Ich frag mich auch, wieso ich mich mit die abgebe!«, sprach ich beleidigt, reichte ihm aber die Sekunde darauf die Uhr und hob dabei meine Mundwinkel so hoch es ging. »Für dich.«

Burak starrte zuerst völlig aus der Bahn geworfen die Uhr an.
»Gib deinen Arm!«
Er gab mir seinen Arm so, dass ich einwandfrei die Uhr dranmachen konnte und in diesem Moment merkte ich, was es hieß, wenn man sagte, dass in jedem noch ein kleines Kind steckte. Seine Augen und sein Grinsen reichten.
Er umarmte mich plötzlich so fest, dass ich kaum Luft bekam.
»Luft«, keuchte ich, weshalb er mich losließ, angrinste und wieder umarmte, dieses Mal aber so, dass ich atmen konnte.
»Danke, Aslı«, flüsterte er in mein Ohr ich spürte seinen Atem gegen meine Haut prallen, die es einsog und nie mehr wieder geben würde.

»Gern«, brachte ich hervor und war so glücklich darüber, dass er glücklich war.
Er studierte gerade seine Uhr, bemerkte meine Ritzarbeit und lächelte noch mehr, falls das überhaupt möglich war. »Ich weiß nicht, was ich sage soll.«

»Wow, Burak ist sprachlos«, scherzte ich und genau da sah ich vom Fenster aus Neslihan. Sie würde hier rein kommen.
»Was macht die denn hier?«, sprach ich in Gedanken und verließ mitsamt Burak den Raum. Neslihan betrat gerade das Restaurant und wollte sich einen Platz aussuchen.

»Burak, hilf mir mal oben«, bat Liana und Burak lief mit ihr die Treppen, weil dort die meisten Kunden waren.
In dem Moment passerten viele Dinge gleichzeitig. Ich entdeckte in der Ecke des Restaurants Ziya sitzen, der geschockt aufstand und in Richtung Eingang laufen wollte, wobei Neslihans Blick seinen traf, sie kurz schockiert aussah und sich umdrehen und gehen wollte. Ziya war jedoch schneller und packte sie am Arm, bevor sie von der Türschwelle verschwand.
»Neslihan«, sprach er mehr als verwundert.
Neslihan sah ratlos aus, blickte kurz umher und wurde noch verzweifelter als vorhin, als ihr Blick meinem begegnete.
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Das Kapitel gehört meiner Aslı, die ich im Laufe der Zeit, in denen ich Geschichten schrieb, kennenlernte und die mir so sehr ans Herz gewachsen ist,

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