Kapitel 1

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Wiegenlied
Kapitel 01

»Was denkst du?«
Nun stand ich gerade tatsächlich vor meiner Tante Neslihan und sie fragte mich, was ich dachte, obwohl sie das viel besser wusste als ich. Die Frage war nur, ob ich es auch aussprechen sollte. Es würde ihr nicht gefallen, also schwieg ich einfach und sie merkte, dass aus der Antwort nichts werden würde und setzte sich zu mir an den Küchentisch.

Ich hatte einfach keinen Apetit. Neslihan redete fröhlich weiter. Dabei sah ich ihr in die hellen braunen Augen, aber das, was sie sagte, hatte ich lange ausgeblendet. Sie redete mir sowieso wieder etwas ein, damit ich alles positiv sah- wie sie. Aber das war nicht möglich.

Ich betrachtete also stattdessen das goldbraune, dicht gelockte, schulterlange Haar von ihr. Sie hatte einen Muttermal über ihre schmale Lippe. »Was meinst du?«, hörte ich sie plötzlich sagen.
»Was?«
»Ich rede von neue Leute kennenlernen, vielleicht einen Job suchen und die Gegend erkunden. Es würde dir guttun.«

»Ja, das hatte ich auch vor.«
Hatte ich nicht. »Ich geh dann mal.«

Ruckartig stand ich auf und wollte gehen.
»Aslı!«, bohrte sie noch einmal in mich hinein. »Pass auf. Nicht, dass du in Schwierigkeiten gerätst.«

Regel Nummer eins in diesem Haus war es, keine Schwierigkeiten zu bereiten oder bei der Polizei zu landen, egal ob schuldig oder unschuldig, denn das konnte schon genug ausrichten.

Als ich durch das Apartment ging, sprach mich ein Mädchen von der Seite an.»Hei! Du musst das Mädchen sein, dass neu eingezogen ist.«
»Ja«

Eigentlich wollte ich sie ignorieren und weiter gehen, aber Neslihan würde mich dann wieder als asozial beschimpfen, wobei sie nicht ganz unrecht hätte. Deshalb setzte ich ein gespieltes Lächeln auf. »Ich bin Aslı.«
»Ecrin.«
Ihre braunen Augen blickten freudestrahlend.

»Ich muss jetzt aber gehen«, setzte ich an.
»Wohin?«
Wieso so aufdringlich? Diese Frage verkniff ich mir. »Job suchen.«
»Ach ehrlich?«
Nein, ich lüge.
»Was für ein Zufall! In dem Restaurant, indem ich arbeite, ist gerade ein Platz frei als Kellnerin. Wie findest du das? Ich könnte für dich ein gutes Wort einlegen!«

Wieso tat sie das? Das Mädchen weckte mein Misstrauen. Mein Instinkt sagte mir, dass ich verschwinden sollte. »Wäre nett, aber ich muss jetzt wirklich gehen!«

Ohne sie weiter ausreden zu lassen, verließ ich eilig das Apartment. Die frische Luft tat unglaublich gut. Ich liebte es, allein zu spazieren, weil man einfach über alles nachdenken konnte.

Ich nahm einen Bus, um in die Stadt zu gelangen. Kurz darauf kam ich auch an und suchte nach einer geeigneten Arbeit, denn ich hatte keine Lust mit einem Mädchen zu arbeiten, das viel zu aufdringlich war.

Zu meinem Bedauern fand ich nichts und machte mich wieder auf den Weg zur Haltestelle. Gerade als ich auf die Busfahrzeiten schaute, stieg eine Horde wild gewordener Männer aus einem der Büsse. Ich sah sie mir nur vom Augenwinkel an. Sie mussten Fußballfans sein, da sie nämlich alle entweder Jacken, Schale, Make-up oder andere Sachen mit den Logo von irgendwelchen Mannschaften trugen.

Es entstand ein Streit und schon gleich darauf wurde geschlagen. Das war ein Zeichen für mich, dass ich lieber gehen sollte.

Als ich dann plötzlich auch die Sirenen eines Polizistenwagens hörte, gefror mir das Blut in meinen Adern.

Ohne zu überlegen rannte ich in die nächste Straße hinein. Es war Mitte Sommer und die Hitze machte mir schwer zu schaffen. Ich hörte nicht nur meine schnellen Schritte auf dem Boden hallen, sondern auch die von jemand anderem. Ein Blick nach hinten genügte, um zu merken, dass ich in Schwierigkeiten war, denn ein Polizist rannte mir nach, was ich lächerlich fand. Sehe ich etwa aus wie ein Fußballfan? Und wenn ja, ist es denn wert, so jemandem nachzulaufen?

Auch wenn ich schnell war, hatte ich es schwer, denn die Seitenstiche bohrten in meinen Bauch. Wie lange war ich nicht mehr so gerannt? Es musste einen Ewigkeit her sein.

Nach der nächsten Ecke erschien eine weite gerade Straße ohne Möglichkeiten in eine Abbiegung. Das einzige, was für mich die letzte Rettung sein konnte, war ein Auto, welches gerade an Stehen war, weil die Ampel vor ihm rot leuchtete.

Mein Gehirn spielte nicht wirklich mit, weil es zu sehr beschäftigt war, mir klar machen zu wollen, dass höchste Gefahr angesagt war. Die Worte meiner Tante liefen Routine in meinem Kopf: "Pass auf. Nicht, dass du in Schwierigkeiten gerätst".

Und deshalb hatte ich mit voller Wucht die Tür des hinteren Teiles des Wagens geöffnet und war reingesprungen. Mein Herz klopfte schnell, als ich noch hörte, wie ich die Tür zuknallte und mich gegen den Sitz drückte.

»Bist du krank, was tust du hier?!«, rief der Fahrer schon. Erst jetzt bemerkte ich, was ich getan hatte und staunte selbst darüber. War ich bescheuert?
Jap, ich war definitiv bescheuert.

»Bitte sei leise«, brachte ich nur heraus und drückte mich nach unten, damit man mich von draußen nicht sah.

»Willst du mich verarschsn? Steig sofort aus dem Wagen oder ich schmeiße dich raus.«
Typisch Ausländer.

»Bitte, ich will nur meinen Verfolger loswerden, dann steige ich selbst aus.«
Meine Stimme klang verzweifelt, was ich noch mehr hasste, als meine jetzige Situation.

»Was für Verfolger, Junge?«
»Komm schon, müssen Ausländer nicht zusammenhalten?«
Die billigste Ausrede dieser Welt.

Ich schloss die Augen und bereitete mich auf mein Ende vor.
»Bück dich«, zischte er und meine Augen flatterten wieder auf. »Warte. Warte. Jetzt ist er weg.«

WiegenliedWo Geschichten leben. Entdecke jetzt