Kapitel 60

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Wiegenlied
Kapitel 60

»Was tue ich hier?«, fragte Tamara eher zu sich selbst und ließ die Waffe sinken. Ihr Blick war starr auf mich gerichtet, die Augen geweitet und keine Sekunde später ließ sie sich auf den Boden sinken und begann schluchzend zu weinen. Ich konnte erst nachdem Burak neben mir erschienen war, die Lage realisieren.

»Lass uns gehen«, sagte ich kühl, griff nach seiner Hand und zog ihn mit mir zur Vorderseite des Hauses. Mit meiner freien Hand wählte ich die Nummer meiner Tante, die nicht erreichbar war. Hatte sie nicht noch vor fünf Minuten noch mich selbst angerufen? Wie konnte sie so schnell wieder unerreichbar werden? Was sollte ich tun?
Ich hätte Tamara die Waffe wegnehmen sollen.

»Was ist da gerade passiert?«, fragte Burak mich währenddessen. Ohne ihm zu antworten hatte ich widerwillig eine andere Nummer gewählt. »Fatih, fahr so schnell wie möglich zum Haus von Tamara. Die Einzelheiten erfährst du später, es ist ernst.«
Bevor er noch etwas anderes sagen konnte, legte ich auf.

Burak sah mich mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Ach, der Polizist ist eingeweiht, aber ich nicht?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Ich hab ihm nichts verraten.«
Wir bewegten uns weiter weg von dem Haus und blieben versteckt in einer Ecke. Von hier aus hatten wir einen Blick zum Haus für den Fall, dass Fatih kam und ein Versteck für den Fall, dass Tamara wieder Psycho spielen wollte.

»Burak, ich werde dir alles erklären, aber dafür müsste ich von ganz vorne anfangen und das ist kompliziert«, und ich habe Angst, ergänzte ich in meinem Kopf.
»Ich kann es ja versuchen. Wir haben sowieso Zeit.«
Ich nickte einfach, da er ja recht hatte. Irgendwo musste ich beginnen, auch wenn ich es nicht wollte. Ich sollte aufhören, mich zu verkriechen. »Also«, begann ich und Burak fing an zu lachen. Er schüttelte leicht den Kopf. »Genau, wo ich dich zum Sprechen bringe, muss dieser Polizist auftauchen. Er muss mich ja wirklich hassen.«

Ich fuhr herum und erblickte Fatihs Wagen. Dabei wusste ich nicht, ob ich mich freuen sollte oder nicht. Diesen ganzen Druck hätte ich hinter mir lassen können, hätte ich es gesagt.

»Komm«, hielt Burak fest meine Hand, als würde er sie nie wieder loslassen und wir liefen eilig zum Wagen. Als ich einstieg, merkte ich, dass auch Liana dabei war. Sie lächelte ihr sorgenfreies Lächeln, während Fatih besorgt losfuhr. »Was ist passiert?«, fragte er.

Ich sah zurück zum Haus, erkannte aber keine Tamara. Ich sollte aufhören, mir Gedanken um sie zu machen. Schließlich hatte ich genug andere Sorgen. »Fahr bitte zum Krankenhaus.«

»Du hast verlernt zu antworten«, bemerkte Liana, die trotz allem Ruhe bewahrte und einem das Gefühl gab, dass alles in Ordnung sei.
»Wann wusste sie es denn?«, fragte Fatih, doch ich ignorierte ihn.

»Wahrscheinlich hast du recht«, seufzte ich und war erleichtert darüber, dass wir von diesem Loch wegkamen.
»Welches Krankenhaus?«, fragte Fatih und ich beschrieb ihm den Weg, weil ich vergessen hatte, wie es hieß- Im Moment war ich einfach überfordert.

»Du musst zu deinem Vater«, erklärte ich Burak kurz.
»Und du?«, entgegnete er scharf.
»Ich muss zuerst zu Neslihan.«
Er verdrehte die Augen und lehnte sich tiefer in den Sitz. »Wie immer. Willst du wenigstens sagen, weshalb Neslihan nicht dort ist?«
»Keine Ahnung. Sie hat es mir nicht gesagt.«
»Dann lass zusammen erst zu Neslihan und dann dahin.«

Ich schüttelte heftig den Kopf. »Dein Vater braucht dich momentan. Er braucht dich wirklich so dringend, glaub mir. Ich bin nur kurz bei Neslihan, dann sind wir wieder da. Dann wirst du mich nicht los.«

Etwas in seinen Augen funkelte. Es war wie ein unausgesprochenes Versprechen.
Ich werde dich nie verlassen.

Er nickte.
»Burak«, fasste ich ihn schnell am Arm, als er aussteigen wollte. »Ich muss dir noch etwas gestehen, bevor du gehst.« Jetzt oder nie. Er lächelte sein schiefes Lächeln, küsste mich rasch auf die Wange und war im nächsten Augenblick aus dem Wagen gestiegen. »Wir haben später noch Zeit.«

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