Kapitel 59

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Wiegenlied
Kapitel 59

»Richtig!«, lachte Tamara. »Emir Çetin ist wach und jetzt ratet doch einmal, wer als top Ärztin sofort Bescheid bekommen hat?« Ich konnte nicht fassen, dass sie in einer solchen Situation noch so angeben konnte.

»Was- was machst du denn hier?«, brachte Neslihan nur noch hervor. Ihre aufgerissenen Augen glitten immer wieder von mir zu Burak und wieder zurück. Wie toll ihr Tamara Bescheid gegeben hatte. Langsam fragte ich mich, auf wessen Seite Tamara stand und ob sie wirklich vertrauenswürdig war. Ihre jetzige Aktion sprach definitiv dagegen.

»Ich musste Burak herbringen«, sprach ich und sah dabei mit einem stechenden Blick zu Tamara, die mit der Schulter zuckte und mit einem singsang: »Ich geh dann mal, ihr habt bestimmt viel zu besprechen«, sagte.

Sobald sie das gesagt hatte, war sie schon verschwunden und Burak hatte sich so zwischen mich und Nelihan gestellt, als würde er mich beschützen wollen. Seine Haltung wirkte drohend. »Was soll das heißen, du arbeitest mit meinem Vater zusammen?«

»Burak«, murmelte ich und fasste ihn an der Schuler. Er ignorierte mich und ging einen Schritt auf Neslihan zu. »Du bist diese junge Frau?«

»Welche junge Frau?«, fragte Neslihan verwirrt.
»Deshalb sollte ich nicht mit zu Karahan. Du wusstest, dass ich dich erkennen würde.«
»Wovon sprichst du?«

Ich stellte mich neben Burak, damit ich zeigen konnte, dass ich mit Neslihan war, nicht gegen sie. »Karahan wollte, dass er sich Bilder von den letzten Jahren ansieht, um die "Komplizin" von Emir Çetin zu finden.«
»Wieso hilfst du ihr?«, wollte Burak wütend wissen und versuchte mich wieder hinter sich zu schieben.
»Weil«, antwortete meine Tante für mich. »Die Dinge anders sind, als du glaubst.«

Burak lachte auf. »Absolut. Nie hätte ich dich dahinter erwartet, Neslihan. Du hast ihm geholfen.«
»Er hat mir geholfen«, entgegnete sie.
»Was heißt das jetzt?«
»Dein Vater hat weder jemanden getötet, noch ich. Diese gesamte Sache wird einfach deinem Vater in die Schuhe geschoben. Und wenn du das mit der "jungen Frau" fragst, kein Gericht, kein Polizist, kein Beweis spricht gegen mich. Karahan nutzt dich aus. Er will nur herausfinden, wer ich bin-«
»-Und das wird er auch!«
»Verdammt! Hör mir zu! Dein Vater ist kein Mörder, er hat niemanden getötet!«, wurde Neslihan ungeduldig.
»Ach und wer war es dann?«, zischte Burak. »Er hat es selbst zugegeben.«

»Das stimmt nicht«, widersprach ich. Mit keinen Worten dieser Welt konnte ich meinen jetzigen Schmerz erklären. Es war nicht wie Messerstiche, wie irgendwelche Lähmungen oder Verbrennungen, es war etwas ganz anderes. Es wäre so viel leichter gewesen, alles Neslihan erzählen zu lassen, ich konnte es aber nicht. Ich könnte mir es wahrscheinlich nicht verzeihen. Ich musste es ihm selbst sagen.

Mein Fluchtinstinkt wurde stärker, doch ich riss mich zusammen. Ja, ich war es gewohnt, hinter meiner Tante in Schutz zu stehen und obwohl Burak keine Gefahr darstellte, fühlte ich mich so schutzlos.

Ich schluckte schwer und versuchte den Kloß, der sich gerade eher wie ein Stein anfühlte, runterzuschlucken. »Ich hätte es dir vorher sagen sollen. Vielleicht. Aber ich wollte dich da wirklich raushalten, bis alles geklärt ist. Das es in diese Lage kommt, hätte ich nicht ahnen können.«

Vielleicht war es einfach drum herum zu reden, es änderte nur nichts daran, dass ich es früher oder später aussprechen musste. Etwas, was ich nicht einmal wagen konnte, in meinen Gedanken auszusprechen. »Nicht Emir Çetin ist der Mörder, sondern Arda Karahan.«

Neslihan hatte recht. Namen konnten Identitäten wechseln. So tat es mir weniger weh, wenn ich Arda Karahan sagte, anstatt mein Vater. Es war leichter, ihn als Asli Evren zu sehen, statt als seine Tochter, Asya Karahan. Es war so absurd und dennoch stimmte es.

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