Wiegenlied
Kapitel 61In meiner Hand war ein Taschentuch, welches ich schon in Fetzen gerissen hatte. Ich war so unbeschreiblich nervös, dass ich kaum auf der Stelle bleiben konnte. »Es wird alles gut«, flüsterte ich zu mir selbst, was mich nicht wirklich beruhigte, weil ich merkte, wie sehr meine Stimme zitterte. Ich würde kein Wort herausbringen! Ich würde stottern und dann umfallen! Konnte mir bitte jemand eine scheuern? Beruhig dich!, dachte ich und hielt an diesen Gedanken fest.
Meine Schritte hallten auf dem hellen Marmorboden. Ich atmete ein letztes Mal kräftig ein und wieder aus, dann betrat ich den großen Saal. Kopf hoch, Rücken gerade, keine Angst zeigen.
Der Moment war gekommen.Mit den Augen suchte ich den Raum nach Burak ab, meine Aufmerksamkeit wurde jedoch von jemand anderem angezogen.
»Wo ist der Angeklagte?« , forderte der Richter wutentbrannt. Seine Gesichtszüge wiesen härte auf. Er schüttelte den Kopf. »So etwas ist unerhört!«
Ich sah den Saal nach Emir um. Er fehlte nicht. Das hieß, mein Vater fehlte. Langsam erkannte mein Gehirn die Zusammenhänge und hielt Ausschau nach Burak. Er war nicht da.»Burak«, hauchte ich. Mit einem Mal wurde mir einiges klar. Ohne auf irgendwen zu achten, hob ich mit beiden Händen mein Kleid, um schneller rennen zu können und lief aus dem Saal.
Von wegen "alles bald vorbei!".
Mein Herz hämmerte mir gegen die Brust. Der Sonnenuntergang färbte den gesamten Himmel rot- blutrot.
Blut. Ich versuchte das Gefühl zu unterdrücken, aber es übernahm die Oberhand. Ich hörte den Schrei meiner Mutter, wie jedes Mal, wenn ich Blut sah und in diesen Tag zurückversetzt wurde. Ich hielt mich fest an meinem Bewusstsein, hatte Angst es zu verlieren. Tiefe Atemzüge begleiteten mich, während ich immer weiter rannte. Der Angeklagte war weg. Das bedeutete, dass die Polizei eingeschaltet wurde, aber wer garantierte mir, dass solange Burak nicht tot auf dem Boden lag. Ich versuchte den Gedanken zu verdrängen und erblickte nebenbei den Wagen von Fatih.Er selbst lehnte sich daran und hatte die Arme verschränkt. Kurz bevor ich zu ihm ankam, bekam er eine Ansage, wahrscheinlich den Notfall von unserem Fall.
Der Schlüssel lag im Zündschloss.
Fatih zog die Augenbrauen zusammen und rannte daraufhin ins Gebäude. Er war in Eile. Ich auch.Ein Stück Saum meines Kleides war eingeklemmt, als ich Gas hab und in Richtung Villa Karahan fuhr. Wieso eigentlich dorthin? Das war der leichtsinnigste Platz für meinen Vater- der erste Platz, wo sie ihn nach dem Justizgebäude suchen würden. Wieso also dorthin?
Vielleicht, weil alles dort angefangen hatte.Ich düste in die Abendröte hinein. Die Häuser schienen alle in Blut zu ertrinken, die Bäume, Straßen, alles. Selbst ich, denn der Geruch ging mir nicht aus dem Kopf. Bloß keine Tränen, zwang ich mich. Ich schluckte, doch der Kloß schien dadurch nur fester in meinem Hals zu stecken. Atmen.
Die Röte des Abends und die Gebäude verschwammen während der Fahrt immer mehr miteinander, als würden sie eins werden. Die Sonne verabschiedete sich mit jeder Sekunde. Sie ging unter mit all ihrem Blut und vergrub alles mit schwarzer Erde.Blut- Buraks Blut. Wieso wurde ich die Vorstellung nicht los, dass er genauso wie die Sonne bald vergraben werden würde?
Ich biss die Zähne fest zusammen und bremste hart, als ich ankam. Bevor ich aus dem Wagen stieg, suchte ich das Handschuhfach noch nach einer Waffe ab. Fatih war ja Polizist. Jedoch verschwand die Hoffnung so schnell, wie sie gekommen war. Mit leeren Händen lief ich also zur Villa.
Die Tür war fest abgeschlossen. Was hatte ich auch erwartet? Dennoch rüttelte ich an ihr, konnte kaum noch einen richtigen Gedanken fassen. Fenster. Könnte ich durch irgendwelche Fenster hinein? Im hinteren Bereich war ein Fenster, welches ebenfalls als Tür diente und entsprechend groß war. Ich musste somit mit diesem Kleid über den Zaun klettern. Als Kind war das kein Problem. Vielleicht wäre es halb so mühsam, wenn ich nicht diesen Ballon von Kleid anhätte, welches kleine Risse durch den Zaun bekam.

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Wiegenlied
Mystery / ThrillerAslı soll nicht in Schwierigkeiten geraten. Vor allem nicht mit der Polizei. Das erklärt ihre Tante ihr immer wieder aufs Neue. Als sie dann doch in welche gerät und vor einem Polizisten flieht, ist sie auf die Hilfe von Burak, der für sie nur ein...