Kapitel 21

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Wiegenlied
Kapitel 21

Mir stockte der Atem, als ich plötzlich Burak sah. Mit einem Ruck stand ich vom Klavier auf und starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an. »Bu-«, brachte ich nur heraus und versuchte etwas aus seinen undefinierbarem Blick zu erkennen.

Ich erwartete, dass er sich lächerlich machte. Er sah mich aber nur an.
»Wieso hast du nicht gesagt, dass du hier bist?«, fragte ich.
»Weil du sonst aufgehört hättest«, antwortet er mit einem Lächeln, wie ich es nie gekannt hatte. »Wie jetzt.«

Nichts. Danach kam nichts von ihm.
»Du kannst lachen«, sprach ich kalt und ausdruckslos.
»So sehe ich also in deinen Augen aus. Wie ein Ungeheuer?«

Ich musste auflachen, so bescheuert war die Lage gerade. »Was erwartest du denn, wie du in meinen Augen aussiehst? Vor allem nach der Aktion heute morgen? Wie willst du da noch aussehen?«

»Ich hab nicht gedacht, dass du es tust«, gab er zu, was mich die Aktion noch mehr zum bereuen brachte.
»Das entschuldigt nichts.«
»Das sollte keine Entschuldigung sein. Ich wollte es nur gesagt haben. Du hast mich überrascht. Die Frage ist nur, weshalb dir das so wichtig war, weshalb deine Tante dieses Stück nicht hören sollte.«
»Dann grüble doch weiter in deiner Ecke. Egal, was ich sage, du mischst dich doch immer und immer wieder in meine Sachen ein. Langsam glaube ich echt, das ist genetisch bei euch veranlagt.«

»Wenn es dich so sehr stört, geh doch. Das kannst du doch so gut«, erwiderte er und ich war mir nicht sicher, ob er es nur zur Provokation sagte oder ernst meinte.
Ich blinzelte. »Ich frage mich echt, wie man so sein kann.«
»Ich auch«, gab er zu. »Ich weiß echt nicht, was ich habe, dass ich versuche, dich zu verstehen. Es ist sowieso sinnlos.«

Ich ging an ihm vorbei und verließ wütend das Restaurant. Er hatte ja recht. Ich war wirklich nur am Abhauen, aber warum wohl? Was erwartete er? Etwa, dass er alles sagen konnte, dass er wollte und ich nur zu sehen sollte? Arschloch. Ich konnte das Wort nicht oft genug sagen. Es konnte nicht einmal ein winziges Stück von ihm Beschreiben.

Wieso blieb ich denn auch dort?
Wieso spielte ich mein Wiegenlied?
Wieso ließ ich es zu, dass er mir so nahe kam?
Wieso arbeitete ich überhaupt noch dort? Wieso kündigte ich nicht?
Wieso verheimlichte ich Neslihan alles?

Zwischen all diesen Fragen konnte ich nur die Letzte beantworten. Neslihan würde sich nur unnötige Sorgen machen und das wollte ich vermeiden. Oder war da mehr?

Mein Handy klingelte. Ich hob einfach ab und hörte die Stimme von Ecrin. »Aslı, wo bist du?«, fragte sie.
»Vor dem Restaurant.«
»Warte da. Bin in einer Minute da.«
Sie hatte schon aufgelegt, ohne auf eine Antwort zu warten. Da blieb mir nur noch die Option zu warten.

Ecrin war auch schon kurz darauf mit ihrem Wagen da. Ich ließ mich auf den Sitz fallen und schnallte mich an.
»Ich hab das mit Meltem gehört«, sagte sie. In diesem Moment hätte ich so gerne mit ihr über all meine Probleme geredet, über alles, das mich belastet, denn sie war doch meine Freundin und sie war jemand, der mich ausgehalten hatte, egal wie schlimm ich anfangs war.

»Zum Glück ist sie gefunden. Wo war sie denn?«, fragte sie weiter.
»Im Park«, antwortete ich, »Danach bin ich mit ihr Kuchen essen gegangen.«
Meine Geheimnisse waren versiegelt, genauso wie der Schmerz. Man konnte nur beides öffnen und das konnte ich nicht in Kauf nehmen. Vor allem nicht, wenn sich der Schmerz auch an sie klammern könnte. Wie eine Krankheit.

»Die Kleine tut mir leid«, flüsterte Ecrin und warf mir einen kurzen Blick zu.
»Es muss schwer für sie sein.«
»Und wie... Früher hab ich mehr Zeit mir ihr verbracht, weil ich sie ablenken wollte. Sie ist wirklich ein schlaues und kreatives Mädchen. Außerdem schwärmt sie sehr für Burak. Sie wollte mich immer überreden, mit ihr ein freundschaftliches Herz an einen Baum zu ritzen und dann unsere Namen darein. Das soll Burak auch in der Grundschule gemacht haben.«
In der Grundschule.

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