Kapitel 33

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Wiegenlied
Kapitel 33

Neslihans Blick durchbohrte meinen. Ich bekam den Drang, ihr um den Hals zu fallen und mich auszuheulen. Seit wann hatte ich angefangen, ihr nicht mehr alles zu erzählen? »Da war ein Typ, ich hatte ihn schon einmal gesehen, wie er die gefolgt war und heute wieder.«
»Ein Typ?«

Sie zog zuerst die Brauen zusammen, wurde dann langsam hysterisch und auch wenn sie es versuchte, zu verbergen, klappte es nicht. Oftmals fuhr sie mit ihrer Hand durch ihre Locken. »Wie sieht er aus? Woher hast du ihn wiedererkannt? Du musst mir alles erzählen!«
»Neslihan, beruhig dich«, bat ich sie.
»Wie beruhigen? Du sagst mir, dass irgendjemand mir gefolgt ist und willst, dass ich dabei ruhig bleibe? Verstehst du den Ernst der Lage nicht?«
»Doch klar, aber-«
»Du musst ihn mir sofort beschreiben!«
»Kann ich nicht!«

Sie sah mich mit offenem Mund an. Ihre Augenbraue zuckte unwillkürlich.
»Also, ich hab ihn nicht ganz gesehen. Er hatte dunkles Haar, dunkle Kleidung, mehr nicht. Sein Wagen war dunkel, ich hab ihn eh wegen seinem Auto wiedererkannt. Vielleicht bin ich auch nur paranoid und hab es mir nur eingebildet.«

Neslihan durchbohrte mich mit weiteren Fragen, wie ob ich wissen würde, welches Kennzeichen das Auto hatte. Ich erklärte ihr, dass ich nichts wusste und das mehrere Male. Schließlich gab sie nach und lief in ihr Zimmer.

Ich holte wieder den Zettel aus meiner Hosentasche, als ich in meinem Zimmer war, schrieb den Inhalt auf ein anderes Blatt und legte den Zettel dann wieder auf den Küchenboden. Wenn Neslihan ihn vermisste, dann würde sie ihn suchen.

Am nächsten Tag zog ich mich unauffällig an und lief aus dem Haus. Neslihan war eine Stunde vorher gegangen.
15:00 Uhr war das Treffen.
Mein Herz schlug schon wild vor Neugier. Ich konnte es kaum erwarten, hatte nebenbei aber auch Angst, dass sie mich erwischen würde. Wie schlimm das wäre.

Ein Teil von mir wollte deswegen einfach zu Hause bleiben, aber das konnte ich mir einfach nicht erlauben. Ich musste die Wahrheit erfahren.
Die Ganze.

Ich folgte der Adresse und fand ein kleines Café vor mir. Es war zwar nicht auffällig, doch war es sehr besucht. Somit war die Chance geringer, dass sie mich sehen würde. Ich lief rein und suchte mir die verborgenste Stelle. Als ich gerade mein Gesicht hinter der Speisekarte versteckt hatte und mir überlegte, was ich mir holen sollte, kam Neslihan herein und setzte sich auf einen Platz. Ihr Rücken war in meine Richtung gedreht. Da hatte ich mal wieder Glück gehabt.

Ich spürte, wie die Nervosität meinen Rücken hochkroch.
Eine junge Frau, die ich noch nie zuvor gesehen hatte, betrat das Café und setzte sich lächelnd vor Neslihan, die aus ihrer Tasche Unterlagen herausholte.
»Ich merke, du bist wieder voll in deinem Element«, sprach die junge Frau mit einem halben Lächeln.
»Armi, ich glaube, ich kann das alles nicht mehr lange durhhalten. In letzter Zeit ist alles so durcheinander. Ich kann meinem eigenen Gefühl kaum trauen.«

Armi nahm die Unterlagen und steckte sie in ihre Tasche. »Neslihan, die Sache ist kompliziert. Ich weiß nicht, ob ich euch da wirklich rausbringen kann. Ich kann es nur versuchen.«
»Ich weiß. Sie ist schon lange volljährig. Ach, verdammt. Ich wollte sie doch als minderjährige herbringen, aber nicht einmal das habe ich geschafft.«

Neslihan rieb sich an den Augen, um Tränen zu unterdrücken. Armi legte ihre Hand auf Neslihans Arm. »Du kannst nichts dafür. Es wäre so oder so so gekommen.«
»Ich weiß, aber ich schaffe es ja nicht einmal sie zu beschützen.«
Die Kellnerin kam und beide bestellten sich einen Kaffee. Der Service hier war ziemlich gut. Ich hatte auch schon meinen Cappuccino bekommen und rührte ihn gespannt.

Gleich nachdem ihre Bestellung angekommen war, redete Armi weiter. Ihre Stimme wurde sanfter, als hätte sie Angst, Neslihan könnte zerbrechen. »Wie gesagt, ich kann mit großer Wahrscheinlichkeit nicht euch beide da rausbringen-«
»Das ist mir egal, die Hauptsache ist-«
»Die Hauptsache ist, dass Aslı nichts passiert. Ich weiß. Sie darf keinen Schafen davon haben. Das hast du mir jetzt um die hundert mal gesagt.«

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