Kapitel 47

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Wiegenlied
Kapitel 47

Ich hatte nicht erwartet, dass Neslihan irgendjemanden aus Buraks Familie kennen könnte. Es kam mir so furchtbar unrealistisch vor. Als sei ich ih einem dieser wirren Gedanken von Kaan gefangen.
Neslihan biss die Zähne fest zusammen und senkte ihren Blick. Sie schien zwischen zwei Wegen zu stehen: Weglaufen und die Wahrheit sagen. Man konnte ihr gerade nichts besser von den Augen ablesen, als dass sie fliehen wollte. Nur würde das nichts bringen.
»Neslihan«, begann Ziya wieder. Der Schock in seinen Gesichtszügen hatte sich beruhigt. Nun sah er regelrecht glücklich aus. »Wo warst du? Weißt du, wie lange ich dich gesucht habe?«
Neslihan seufzte und gab nach. »Ich war bei meiner Schwester.«
»Du hast sie gefunden?«
»Können wir nicht später reden?«
»Wieso hast du nicht Bescheid gesagt?«
»Bitte, Ziya, ich muss wirklich los.«
Ich hätte zu den beiden gehen und sagen können, dass ich ja Neslihans Nichte war. Aber es ging nicht, egal wie neugierig ich war. Ich vertraute Neslihan mehr als meinen beiden Augen. Das konnte kein Kaan ändern. Sie hatte ihr Leben für mich gegeben. Ihr gesamtes Leben. Sie hatte alles zurückgelassen, um mir zu helfen.

»Ich lasse nicht zu, dass du wieder verschwindest. Nicht nachdem ich dich gefunden habe«, erwiderte Ziya fest entschlossen, was mich annehmen ließ, dass sie sich ziemlich nahe standen. Zu nah. Konnte das sein? Das konnte ich mir nicht vorstellen.
»Ich komme wieder. Versprochen.«
Mit den Worten verließ sie das Restaurant und ich begab mich widerwillig zu einem der Kunden. Wie sollte ich reagieren? Ich fühlte mich schlecht und am besten hätte ich mich unter mein Bett verkrochen.

Ziya ging eine kurze Weile danach auch. Ich war so abwesend, dass ich kaum irgendetwas mitbekam. Monoton erledigte ich meine Arbeit, bis dann Fatih in das Restaurant hereinspazierte. Auf den hatte ich momentan am wenigsten Lust. »Was willst du,«, fragte ich, als er direkt vor mir stand.
»Das ist aber eine nette Begrüßung.«
»Fatih, ich glaube dir kein winziges Stück mehr. Halt dich aus meinem Leben raus.«
Er lachte. »Dann hat dich dieser Burak doch noch rumgekriegt. Asli, wach doch mal auf! Der Typ lügt dich von vorne bis hinten an!«
»Schrei hier nicht rum.«
»Was soll ich sonst tun?«
»Dich beruhigen und am besten gehen.«
Er fuhr sich durchs Haar. »Wenn er dich verarscht, komm nicht zu mir!«
Wütend lief er wieder zurück und ich sah ihm nach. Im Moment verwirrte mich jeder.
»Was ist denn mit dem los?«, hörte ich plötzlich die Stimme von Liana dicht bei mir.
»Keine Ahnung.«
»Ehrlich, dem gehts doch nicht gut. Überleg es dir zweimal, wen du dir als Freund nimmst.«
»Das sagt die Freundin von Kaan?«, musste ich grinsen.
»Jap, die Spion-Freundin. Aber langsam bekomme ich wirklich Angst vor ihm. Er verhält sich so abartig.«
»Liana, nur damit du ihm nachspionieren kannst, solltest du nicht dein Leben riskieren. Ich glaube, er ist gefährlich.«
»Ich weiß es sogar.«
»Wie, du weißt es?«
»Letztens hatte er eine Pistole in seiner Tasche. Ich glaube, er denkt, ich sei hohl im Kopf. Wetten, nur weil ich eine Blondine bin!«

Sie rümpfte die Nase und verschränkte beleidigt die Arme. »Na ja, ist auch egal. Auf jeden Fall ist er dann mit der Tasche nach Hause. Ich hab anonym durch eine Telefonzelle die Polizei angerufen und geschildert, was ich gesehen habe. Rate mal, was passiert ist. Sie haben nichts gefunden. Nicht einmal ansatzweise irgendetwas, was darauf deutet, dass er gefährlich sein könnte.«
»Liana, mach Schluss! Das ist ernster, als ich erwartet hab.«
»Reg dich ab. Als wer bin ich sicherer? Seine Ex oder seine Feeundin?«
»Wenn du ständig bei ihm bist, wird dir das auch nicht helfen.«
»Aslı, du gehts nicht zum Maskenball, oder?«
»Wieso? Und ändere doch jetzt nicht das Thema!«
»Kaan wollte, dass ich meine Freunde, vor allem dich dahin einlade. Er hat etwas vor.«

Unser Gespräch wurde unterbrochen, weil wieder neue Kunden kamen und kurz darauf auch wieder Burak nach unten kam. Er fragte mich, ob ich nun Zeit hatte, um mit ihm zum Ball von Karahan zu kommen und ich zuckte mit den Achseln und sagte, dass ich nicht genau wusste. Dabei fühlte ich mich noch schlechter, als ich es vorher schon tat, falls das überhaupt möglich war.

»Schicke Uhr«, lobte Liana Burak, als wir endlich Schluss hatten. Wir standen schon vor der Tür und warteten auf Ecrin. Liana wollte noch bleiben, bis Ecrin kam.
»Ich weiß«, grinste Burak. »Hab ich geschenkt bekommen.«
»Ach ja, von wem denn?«, fragte sie und an ihrer Tonlage bemerkte man sofort, dass sie einen Verehrer erwartete. Wieso mussten die Leute immer an so was denken? Ich meine, es gibt auch Freundschaften! Also- ich- ich hab sie ihm gekauft, weil ich ihn mochte. Nicht das, was Liana denken musste.

»Jemand besonderes«, erwiderte Burak und ich drehte mich etwas weg von denen. Das war mir irgendwie peinlich. Wieso musste Burak auch so übertreiben?
»Wie besonders?«
»Unbeschreiblich.«
»Oh mein Gott, bist du verliebt!«, quiekte sie und sprang herum.
»Wer ist verliebt?«, kam gerade Ecrin hierher. Ich spürte, wie rot ich geworden war. Das war ein schlechter Moment. Ein ziemlich ziemlich schlechter Moment.

»Na Burak!«, meinte Liana.
»Was! Wie kannst du es wagen, dich ohne meine Erlaubnis zu verlieben!«, entgegnete Ecrin gespielt sauer. Ich hatte mich in kurzer Zeit in den Wagen von Burak verdrückt. Ecrin und Burak kamen nach ihrem Gespräch mit Liana dann auch hinein und Burak begann zu fahren.
»Wieso bist du beleidigt?«, fragte ich Ecrin lachend, weil sie ihre Arme verschränkt hatte. Sie sah zu Burak. »Er will mir nicht sagen, wer die Unglückliche ist!«
»Es gibt keine Unglückliche, Ecrin, ihr Mädels solltet weniger fantasieren«, sagte Burak, sah mich dann vom Rückspiegel an, grinste schief und zwinkerte mir zu. Ich ignorierte das und starrte unschlüssig aus dem Fenster.

Zu Hause wartete ich darauf, dass Neslihan nach Hause kommen würde. Ich zwang mich, nicht wieder den Mist von Kaan zu lesen und nicht daran zu denken. Klappte nur nicht.
Das Klingeln an der Tür riss mich von meinen Gedanken. Ich stand auf. Nun war die Stunde der Wahrheit. Sie musste mir doch etwas sagen. Irgendetwas.
Als ich die Tür öffnete, stand nur niemand dort. Nur ein Paket lag mir nun zu Füßen. Auf dem Paket war ein Zettel. "Für die Prinzessin des Maskenballs. B."
Burak.
Wie schaffte es dieser Junge, mich selbst in dieser Lage zum Lachen zu bringen?

Ich nahm das Paket in mein Zimmer und öffnete es. Es war ein Kleid. Ein wunderschönes langes beiges Kleid. Ohne einen Augenblick zu verschwenden zog ich es an und erblickte in den Spiegel. Eine lächelnde Aslı stand vor mir, das Kleid passte perfekt, es war so wunderschön, nur war da ein Problem. Man konnte meine etwas unter meinem linken Schlüsselbein beginnende und bis zu meiner linken Schulter gezogene tiefe Narbe erkennen. Sie war so breit wie mein halber Finger und so schnurgerade, wie es nicht unbeabsichtigt sein konnte.

Meine Mundwinkel zogen sich nach unten, als ich die Narbe betrachtete, die so tief war, dass ich das Gefühl hatte, sie würde bis zu meiner Seele reichte.

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