Kapitel 53

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Wiegenlied
Ge. 06- Kapitel 53

Ich wollte hier einfach nur weg. Im Moment wurde mir wieder klar, wie wenig man Menschen kennen konnte. Fatih kannte Anise schon seit er klein war. Nun hatte sie ihn belogen, ihn reingelegt und lag auf einer Trage, die einige Sanitäre in einen Krankenwagen trugen.

Meine Hand griff nach meinem Handy und ich rief Neslihan an. »Neslihan, bitte komm mich abholen.«
Ich legte einfach auf. Mir war kalt.
»Ich fahre dich nach Hause«, sagte Burak zu mir und reichte mir seine Hand. Ich wich ihm automatisch aus. »Ich- Neslihan kommt sofort. Ich sollte raus.«

Eilig lief ich aus dem Restaurant und Burak folgte mir. Er fasste mich am Arm und wirbelte mich zu sich, als wir draußen waren. Seine Augen sahen gebannt in meine. »Du entgleitest mir aus den Händen, Asl.«
Ich schüttelte den Kopf. »Ich bin nur-«
»-Du vertraust mir nicht. Du hast es nie getan, oder?«
»Burak, ich vertraue dir mehr als mir selbst«, hauchte ich. »Und das macht mir Angst.«
Ich riss meinen Arm von ihm und lief eilig in den Wagen, da Neslihan schon angekommen war.

Ich erlitt an einem totalen Gefühlschaos.
»Was ist da passiert?«, fragte Neslihan, als wir losfuhren. Tränen stauten sich in meinen Augen. Ich biss mir fest auf die Lippe, während sie meine Wange hinunter kullerten.
»Aslı, was ist passiert?«
»Neslihan, ich verliere mich.« Ich schluchzte laut auf und zog die Beine näher an meinen Körper.
»Aslı, canim (Mein Leben), schnall dich erst einmal an und beruhig dich.«

Ich gehorchte ihr. Ich blickte aus dem Fenster und sah sein Gesicht. Es war alles wegen ihm, verdammt. Allein wegen ihm hatte ich angefangen, mich anderen zu öffnen, überhaupt andere wahrzunehmen als Person, alles wegen ihm. Was hatte er bloß mit mir angerichtet? Was war bloß mit mir passiert? Ich hatte mich wieder normal hingesetzt, meine Ellenbogen lagen auf meinen Beinen, während mein Gesicht in meinen Händen lag.

»Aslı, was ist passiert?«, fragte sie wieder. Burak war passiert. Wie hatte er sich in mein Leben gemischt? Wie hatte er mich so aus dem Konzept gebracht?
Weshalb war er in mein Leben getreten?
Weshalb?
Weshalb?
Weshalb?
Ich schlug gegen meinen Kopf und fühlte mich erbärmlich hilflos.

Zuhause stellte ich mich gleich unter die Dusche und drehte das Wasser so heiß, dass mein Körper brannte. Die Hitze prallte über meine Haut, konnte mein erfrierendes Inneres jedoch nicht erreichen. Salzige Tränen mischten sich unter das Wasser. Sie wurden eins. Ich fühlte mich erschöpft. Meine Hand glitt zu meiner Narbe, streifte über sie und setzte mich in eine unaufhaltsame Trauer.

Ich stieg ziemlich spät aus der Dusche, trocknete mich ab und zog mich an. Neslihan föhnte mir das Haar, wie es eins meine Mutter immer getan hatte. Ich vermisste sie, ich vermisste diese unbeschwerte Zeit.
»So«, lächelte Neslihan zufrieden und flocht mein Haar noch. »Perfekt!«
Sie hob mein Gesicht, sodass ich sie ansehen musste. »Was ist los, meine Kleine?«
»Ich wünschte, ich wäre deine Kleine.«
»Du bist auf ewig meine Kleine, selbst wenn du alt und faltig bist.«
Ich lächelte gezwungen. »Kaan ist festgenommen worden. Er wollte Liana töten, mich töten, was weiß ich, wen noch. Er war sauer, weil er seinen Job verloren hat und die Wut wollte er bei uns auslassen. Anise hat ihm geholfen. Fatih hat sich für Liana eingesetzt. Burak und wahrscheinlich noch einige anderen haben die Polizei bestätigt. Kaan hat Anise erschossen, die Polizei hat ihn und der Krankenwagen Anise mitgenommen.«

Neslihan blinzelte zweimal. »Ist das dein ernst?«
Ich nickte stumm. »Aber er ist gefangen und alles ist vorbei.«
»Es ist vorbei«, bestätigte sie und bei ihr glaubte ich daran viel fester, als bei mir, obwohl ich es mit eigenen Augen gesehen hatte und sie nicht. Sie strich mir durch das Haar, gab mir einen Kuss auf den Scheitel und deckte mich zu.
»Ich kann nicht schlafen«, flüsterte ich. Sie setzte sich so hin, dass mein Kopf auf ihrem Schoß lag. Leise summte sie mein Wiegenlied.

WiegenliedWo Geschichten leben. Entdecke jetzt