Kapitel 64/ Ende

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Wiegenlied
Kapitel 64/ Ende

»Er- er hat was?«
Meine Stimme war kaum noch hörbar.
  »Er hat sich erhängt«, sagte meine Tante. Er hat sich erhängt. Er ist tot. Mein Gehirn arbeitete so langsam, dass die Nachricht mich ziemlich spät erst einholte. Ich schluckte.

  »Aslı, sag mir wo du bist, ich komme sofort.«
  »Nein!«
Meine Stimme schwang extrem. Ich wusste gar nicht, weshalb ich so traurig war. Ich verabscheute diesen Menschen. Er war ein Fremder für mich und doch tat es irgendwie schrecklich weh. Ich legte einfach aus, ohne Neslihan ausreden zu lassen. Eine warme Träne kullerte meine Wange hinunter. Wieso weinte ich?

  »Was ist passiert?«, fragte Burak.
  »Halt an.«
  »Sag doch, was los ist.«
  »Halt an! Dreh um!«, und wohin dann? Ich biss mir fest auf die Lippe, wollte diesen Schmerz in mir nicht mehr haben. Es war nicht gut, es war überhaupt nicht gut, ich sollte nicht traurig sein, es sollte mir egal sein. Wieso war es das nicht? Er war der Mörder meiner Mutter, der Mörder meiner Kindheit und beinahe der Mörder von mir, Burak, Neslihan, von so vielen, die mir etwas bedeuteten.

»Fahr mich zum Grab meiner Mutter.«
Es kam spontan aus meinem Mund, ohne dass ich es geplant hatte. »Ich weiß, dass du weißt, wo es ist!«

Ich wollte schon immer dorthin, aber Neslihan hatte mir so oft gesagt, dass es zu riskant sei, dass man mich erkennen würde, dass Arda Karahan es bewachen lassen würde. Burak drehte um und fuhr in die andere Richtung. Er stellte keine Fragen mehr, aber sie brannten ihm in den Augen. Ich sah es ihm an, dass er es wissen wollte, jedoch kamen diese Worte nicht aus meinen Lippen.
Anne (Mama), dachte ich verzweifelt, ich bin gleich da, deine Gülkırmızı (rote Rose).

  Als wir nahe an einem Friedhof ankamen, rannte ich schon raus, bevor wir ganz gestoppt waren. Meine Beine bewegten sich ganz schnell, meine Augen fixierten sich auf die vielen Grabsteine, so viele Namen, so viele Geschichten. Ich sank zu Boden, nachdem ich den Grabstein mit der Aufschrift "Behrem Karahan" laß. Meine Mutter. Ich strich durch die Erde, ließ meine Tränen hinein sickern und sprach mit einer zitternden Stimme. »Gözlerimde son bir bulut, Gülpembe, hala hep seni arar, seni bekler, Gülpembe. (in meinen Augen die letzte Wolke, Gülpembe (Rosa Rose), es sucht dich noch immer, es wartet noch immer auf dich, Gülpembe.«

  Hatte es sich so angefühlt, als sie für ihre Schwester gesungen hatte? Hatte es so weh getan? Hatte sie damit gerechnet, dass sie gestorben sein könnte?

  Der Schmerz war überwältigend groß und furchtbar stechend. »Dudağımda son bir türkü, Gülpembe, hala hep seni söyler, seni çağırır, Gülpembe (Aus meinen Lippen das letzte Lied, Gülpembe, es singt immer noch über dich es ruft dich, Gülpembe)«
  Ich lächelte leicht. »Ich passe auf deine Gülpembe auf, Anne(Mama), ich werde sie nicht loslassen, versprochen. Du bist so schnell gegangen, ich kann es immer noch nicht fassen. Es ist so schnell passiert. Kann ich nicht einfach wieder dein kleines Mädchen sein, welches den Kummer, die Sehnsucht dieses Liedes nicht versteht, aber die Kraft deiner Stimme? Die es liebt, dir zu zuhören, mit dir zu singen, zu tanzen.«

  Mein Herz bebte. »Ich brauche dich. Wo bleibt mein Frühling ohne dich, wo bleiben die Blumen, wo bleibst du?«
Es war lächerlich, was ich von mir gab. Sie war tot. »Ich liebe dich so sehr, auch wenn ich manchmal so unartig war. Ich hab dich immer geliebt und du hast einen Teil von meinem Herzen mitgenommen. Es ist sicher bei dir, es wird immer bei dir bleiben und genau deshalb spüre ich dich so gut, Anne (Mama). Müttern widerspricht man nicht, Mütter wollen nur das beste.«

  Eine Hand landete sachte auf meiner Schulter. Ich drehte mich in die Richtung und sah Burak. er kniete sich zu mir und lächelte behutsam. »Der Frühling ist da. Du nimmst ihn nur nicht wahr.«

  Ich wollte meinen Kopf wieder zum Grabstein meiner Mutter sehen, wobei mein Blick auf den Grabstein daneben fiel. "Asya Karahan". Ich war tot. Zumindest behaupteten mache das frech. Es war einfach so, mein Pass wurde auf einem Minenfeld in der Türkei gefunden. Es gab einen Knall, weshalb man nach Jahren darauf aufmerksam wurde. Dass mein Pass das Ganze überlebt hatte, wunderte mich, aber auch, dass ich trotz nicht gefundener Leiche ein Grab besaß. Komische Welt, aber wenn man Geld hatte wie Arda Karahan ging es eigentlich. Ein unechtes Grab.

  Ich schloss die Augen, versuchte mich nur an die Erinnerung meiner Mutter zu klammern. Sie spielte mir mein Wiegenlied vor. Ich hörte zu, bis Burak plötzlich erschien und mich dazu brachte, zum Park zu gehen. Er zeigte mir die Schnitzerei "A+B" und sagte mir, dass er mich heiraten würde. »Das ist ein Versprechen«, gab er ernst von sich. Ich lächelte nur. Ich war ein Kind.

Die Botschaft dahinter war für mich nicht sichtbar, als sei sie hinter dem Horizont verborgen, genauso wenig nicht erkannt hatte, dass mein Wiegenlied jemandem erreichen sollte. Ich stand langsam auf und klopfte mir den Dreck von der Hose. Die Vögel zwitscherten, überall blühten doch die Blumen, der Frühling war hier, nur ich hatte es nicht gemerkt.

»Lass uns gehen«, sagte ich leise und starrte noch das Grab meiner Mutter an. »Burak, heute hat Arda Karahan sich erhängt. Er lebt nicht mehr.«
  Ich saß im Auto und schloss die Augen. Dieses Mal wollte ich einfach nur schlafen und die Welt vergessen. Burak hatte nichts zu meiner Erklärung gesagt, weshalb ich ihm sehr dankbar war.

Tage später bekam ich heraus, dass mein Vater all sein Hab und Gut mir überlassen hatte. Er hatte nicht Asya Karahan alles überlassen, sondern Aslı Evren. Wir hatten uns vorgenommen, das mit der Identitätsfälschung doch noch geheim zu halten, weil das schlechte Folgen für Neslihan und Emir Çetin haben konnte. Emir kam übrigens nach Hause und war nun bei seiner Familie. Neslihan und ich waren eigentlich fast nur wegen ihm zurück hierher gezogen. Wir hatten vorher nicht gewusst, dass er im Koma lag. Er hatte Neslihan eingeredet, dass sie ihn niemals anrufen soll. Wenn er nichts von ihr hörte, hieß es, sie war in Sicherheit. So beließen wir es, denn auch wenn Neslihan aus tiefstem Herzen, genauso wie ich, Rache wollte, wir wollten uns nicht in Schwierigkeiten bringen. Bis wir Emir Çetin helfen mussten. Dass er als der Schuldige abgestempelt wurde, konnten wir natürlich nicht akzeptieren.

Ich wollt nichts davon. Kein Hab, kein Gut, nicht die Villa, in der ich aufgewachsen war. Das Geld spendete ich somit und lebte so weiter, wie bis vorhin.

Wir veranstalteten wir eine Art "kleine Feier" im Restaurant. Ecrin schimpfte mich aus, weil sie als letztes von allen erfuhr, ich lernte Mete besser kennen und konnte ruhig ausautmen. Ab jetzt wird alles gut, sagte ich entschlossen zu mir und hatte einen schönen Abend, einen schönen Tag, ein schönes Leben.

~ Ende ~

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