Kapitel 19

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Wiegenlied
Kapitel 19

Ich kam wütend zu Hause an. Der Typ war mir wirklich gefolgt. Wie konnte er es wagen, mir hinterher zu spionieren? Das war doch nicht zu fassen!

Ich warf meine Jacke in eine Ecke und nahm in diesem Augenblick noch den Geruch von Erde wahr. Verwirrt öffnete ich die Tür einen Spalt weit. Im Wohnzimmer standen einige Pflanzen, die Erde auf dem Boden verstreut und mitten im Raum saß Neslihan wie ein kleines Kind auf den Knien und hatte das Gesicht in ihre Hände gelegt.
»Neslihan«, flüsterte ich sofort und lief zu ihr. Sie sah zu mir hoch, das Gesicht erschöpft und die Augen rot. Ein winziges Lächeln umspielte ihre Lippen, daraufhin drückte sie sie fest gegeneinander und Tränen kullerten ihre Wange hinunter.

»Neslihan, was ist passiert?«, fragte ich hysterisch und kniete mich zu ihr. Sie hatte jede Kontrolle über sich verloren und fing an, schluchzend zu weinen. Ich wusste nicht, was zu tun war. Ich umarmte sie einfach fest und spürte, wie sehr sie zitterte. Plötzlich erschien sie nicht mehr wie die starke selbstsichere und immerzu positiv denkende Frau. Sie erwiderte meine Umarmung und strich mir durch das Haar. »Das ist so paradox. Eigentlich sollte ich dich doch trösten.«
Ich versuchte Blickkontakt mit ihr aufzunehmen, doch sie schaute immerzu auf den Boden.

»Was ist passiert?«, flüsterte ich wieder, doch sie gab mir keine Antwort. Stattdessen versuchte sie aufzustehen und ich half ihr auf. Ihre Beine klapperten. Nach einer kurzen Weile fand sie Halt unter ihren Füßen.

»Ne oldu? (Was ist passiert?)«, forschte ich wieder nach. Was konnte geschehen sein? Wo war sie, anstatt zu mir in das Restaurant zu kommen? Tausend Gedanken durchstreifen meinen Kopf.
»Ich«, fing sie an gequält zu lächeln und sah zu den Pflanzen, »Ich wollte etwas Leben in diese Wohnung bringen. Wie immer hab ich nichts hinbekommen.«
»Ich mach das schon, ruh du dich aus«, murmelte ich immer noch verwirrt von der Lage und half ihr in ihr Zimmer.

Sie legte sich hin und hüllte sich in ihre Bettdecke ein.
»Brauchst du noch etwas?«
Sie schüttelte ihren Kopf.
»Wenn du reden willst, brauchst du nur ein Wort zu sagen.«

So schaltete ich das Licht aus und räumte das Wohnzimmer auf. Sie wollte Leben in diese Wohnung bringen. Vielleicht weil wir beide ein wenig tot waren.
Die Pflanzen stellte ich richtig hin und ging dann selbst ins Bett. Das Schafen fiel mir jedoch schwer. Die ganze Zeit musste ich an das Gesicht meiner Tante, meinem Anker im Leben, denken.

Irgendwann schlief ich ein und wachte am nächsten Morgen durch einen Schrei auf. Der Schrei ließ eine Gänsehaut auf meinem Körper entstehen. Mit einem Ruck stand ich auf und rannte in Neslihans Zimmer. Sie saß auf ihren Bett, die Decke bis zu ihrem Oberkörper gezogen, die Hände fest auf ihre Ohren gedrückt, als würde sie irgendetwas hören. Nur gab es außer ihrem Schrei kein anderen Laut.

Sie hatte die Augen fest zugedrückt und zuckte zurück, als ich sie an der Schulter anfasste. Ihr Blick hing starr auf mich gerichtet, dann rappelte sie sich auf und verschwand im Bad. Ich verstand nichts, außer dass die Sache ernster schien, als ich es gedacht hatte.
Was war- verdammt noch einmal- passiert?

Da steckte noch etwas anderes, als unser täglicher Schmerz.
Es klingelte an der Tür. ich sah perplex auf die Uhr. Oh shit, ich hatte verschlafen. Das musste dann wohl Ecrin sein. Schnell zog ich mich an und rannte aus dem Haus. Sie lächelte mich breit an. »Meinem Vater geht es gut und seinem Bein auch! Er darf aber mindestens zwei Wochen nicht zur Arbeit. Danach muss er wieder untersucht werden. Das macht ihn ziemlich fertig«, sprudelte es aus ihr. Sie wirkte endlich wieder glücklich.
»Das heißt dann wohl, dass er seine Arbeit liebt.«
»Sehr.«

Sie fuhr uns zum Restaurant und mir fiel da wieder Burak ein. Sofort wurde ich wieder wütend. Er stand schon früh am Morgen im Restaurant. Als ob er mich herausfordern wollte. Ich merkte, als wir reingingen, dass sich alle Angestellten, die gerade arbeiteten, sich aufgestellt hatten.
»Gut, dass ihr gekommen seid«, sprach Cesur in einem ungekonnt ernstem Ton. »Ich wollte mir allen reden. Unsere Konkurrenz holt uns langsam auf. Das heißt«, zischte er fast schon und sah dann zu Burak und zu Mahmud, »dass wir uns mehr anstrengen sollten und uns besser zusammenreißen sollen!«

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