Wiegenlied
Kapitel 38Im Leben tut einem manchmal das Unerwartete am besten. Ich hätte nie gedacht, dass ich vor Burak weinen würde, geschweige denn ein Wort über meine Mutter zu sagen.
Jetzt aber lag mein Kopf auf seiner Schulter und ich schluchzte laut und schmerzerfüllt. Er nahm mich in seine Arme und ich fühlte mich sicher. Ich war so kaputt, mein ganzer Körper tat mir weh, alles wurde mir zu viel. Ich hatte sie so vermisst. Was würde ich alles geben, um ihr wunderschönes Gesicht noch einmal zu sehen? Ein letztes Mal?
»Aslı, komm, trink erst einmal etwas«, sagte Burak fürsorglich. Er strich mir über den Rücken und ich versuchte vergebens ein winziges Lächeln hervor zu bringen.
Somit saß ich kurz darauf im leeren Restaurant, auf einem der Stühle und starrte auf das Klavier. Meine Mutter hatte so gerne gespielt.Sie war Gülpembe (Rosenrosa).
Und ich war Gülkırmızı (Rosenrot).
So hatten wir es uns immer vorgestellt.
Wir hatten den ganzen Tag gespielt und gelacht. Und wie sie gelacht hatte. Es war wirklich so, als würden alle Blüten aufgehen, wenn sie erschien.Burak kam mit einem Glas Wasser und reichte es mir. Ich nahm es mit meiner zittrigen Hand und führte es an meinen Mund. Gierig trank ich große Schlücke und stellte es schließlich auf den Tisch. »Ich hab das noch niemandem erzählt«, gestand ich und starrte abwesend auf meine Hände. »Ich hatte mir vorgenommen, es niemandem zu erzählen. Es sollte verborgen bleiben. In meinem Herzen.«
Bei den letzten Worten schwang meine Stimme extrem und die Tränen, die ich kurz bevor verdrängt hatte, kullerten meine Wange entlang. »Kannst du mir mein Wiegenlied spielen, Burak?«
»Ich glaube, das ist keine so gute Idee.«
»Bitte.«
»Aslı-«
»Bitte.«Er stand auf, nahm mich mit, als sei ich eine zerbrechliche Glaspuppe und wir setzten uns an das Klavier. Mein Kopf lag wieder auf seiner Schulter. Ich hatte meine Augen geschlossen und träumte, während Buraks Finger auf die Tasten trafen.
Diese Melodie war unbeschreiblich.
Diese Erinnerungen unvergessbar.
Der Schmerz unauslöschlich.Leise wimmerte ich das Lied nach, so leise, dass ich es selbst kaum hörte. Die Stimme meiner Mutter hallte in meinen Ohren, ihr süßer Geruch umhüllte mich.
»Einmal«, hauchte ich. »Da war ich so fasziniert von dem Namen Gülpembe (Rosenrosa), dass ich angefangen hatte, zu weinen. Ich wollte ihn auch haben. Ich wollte auch so besonders sein. Ich wollte auch ein Teil dieses Stückes sein. Meine Mutter hatte mich dann Gülkırmızı (Rosenrot) genannt, weil damals schon rot meine Lieblingsfarbe war. Ich war so glücklich.«Er stoppte zu spielen, nahm mich in seine starken Arme und ließ mich nicht wieder los. Ich weinte wieder laut, meine Selbstbeherrschung war völlig außer Kontrolle. Durch mein Schluchzen hörte ich seine Atemzüge nicht, die ich doch immer mitzählte, um mich zu beruhigen. Dafür konnte ich nun aber sein Herz so deutlich hören, dass ich die Schläge zählte.
Eins, Zwei, Drei, Vier...
Es beruhigte mich. Er beruhigte mich.Als ich die Augen aufschlug, lag ich auf meinem Bett und erschrak.
»Wow, du konntest also doch noch aufwachen?«, hörte ich die Stimme von Neslihan. Ich richtete mich etwas auf. Meine Muskeln waren verspannt und ich spürte ein leichtes Pochen im Kopf.Ich erkannte ein undefinierbares Lächeln. Es war eine Art Warnung, dass ich sofort aus dem Fenster springen sollte.
»Was machst du in meinem Zimmer?«
Die Frage war eher, was machte ich in meinem Zimmer. Wie war ich hierher gelangt?
»Ich hab mir Sorgen gemacht.«
»Sorgen?«
Ihr Grinsen wurde breiter und ich machte mir Sorgen, dass es ihr vom Gesicht fiel.»Natürlich Sorgen«, sagte sie in einem Singsang und dann veränderte sich ihre Stimme schlagartig. Sie lachte immer noch, aber es machte mich nervös. »Soll ich mir denn keine Sorgen machen, wenn ein Typ plötzlich and er Tür klingelt und in den Armen meine so liebliche Nichte tragt.«
Oh Gott- nein! Nein! Nein! Nein! Ich war nicht eingeschlafen, bitte nicht!
»Hab seinen Namen vergessen, es macht dir doch nichts aus, ihn mir zu sagen, oder?«
»Burak«, sprach ich vorsichtig.
»So so, erst einen Fatih angeln und dann mit einem Burak antanzen.«
Tanzen? Das war definitiv nicht das richtige Wort.Ich stöhnte auf und hielt meine Hand gegen meine Stirn gedrückt, weil das Pochen stärker wurde. »Ich hab nichts mit Fatih, der ist nicht mein Typ.«
»Aber Burak schon?«
Sie grinste.
»Neslihan!«
»Oha, du hast nicht Nein gesagt!«
»Neslihan, ich hab Kopfschmerzen und alles, woran du denkst, sind irgendwelche Typen!«
»Irgendwelche Typen, dich bis zur Tür tragen.«
»Neslihan!«
»Das heißt Neslihan Teyze (Tante)! Du hast gar keine Manieren!«Gleich darauf lächelte sie schon wieder warm und legte sachte ihre Hand auf meine Stirn. »Fieber hast du nicht.«
»Aber es pocht.«
»Okay, ich bring dir schnell was, steh ja nicht auf vom Bett auf.«Ich kuschelte mich wieder in meine Bettdecke und dachte darüber nach, was passiert war. Ich hatte geheult- wie armselig- und dann war ich eingeschlafen- noch armseliger- und Burak hatte mich nach Hause getragen- okay, ich war das armseligste Wesen auf dieser Welt. Ich seufzte und spürte dabei, dass ich rot wurde. Irgendwie roch es hier immer noch nach ihm.
Am nächsten Tag ging es mir wieder wie neu geboren. Nur, dass ich einfach nicht wusste, was ich machen oder sagen sollte, wenn ich Burak begegnen würde. Wie konnte ich mir nur so etwas peinliches überhaupt antun? Ich hasste mich dafür.
Er wartete wie immer vor der Tür und ich öffnete sie erst extra spät, weil ich wollte, dass Ecrin schon da war. Ich konnte Burak kaum ins Gesicht sehen. Wie war es dazu gekommen, dass ich ihm so viel von meiner Welt Preis gegeben hatte? Dass er so verständnisvoll war, dass er es geschafft hatte, mich zu beruhigen, dass ich ihn so nah an mich gelassen hatte, dass ich eigentlich nichts bereute.
»Wieso so still?«, fragte Ecein, als wie im Wagen saßen und Burak fuhr. Sie sah von Burak zu mir. »Also von Aslı kenne ich das ja, aber was ist mit dir, Burak?«
Burak nahm den Blick nickt von der Straße. »Na, da staunst du 'ne.«
»Ja ich staune«, lachte sie ihr wunderschönes Lachen. »Komm, sag, welche Schönheit hat es geschafft, Burak Çetins Sprache zu verschlagen?«Im Restaurant frühstücken wir wie immer. Ecrin redete munter. Da fiel mir ein, dass ich mit ihr reden wollte- eher musste. Die Sache mit Mete wollte keinen Sinn ergeben. Sie sagte, er hätte sie verlassen. Er sagte, sie hätte Schluss gemacht.
»Ich gehe für kleine Mädchen«, kicherte Ecrin, die vorerst zu Burak sag und mir dann einen vielsagenden Blick zuwarf und in Richtung Damentoilette verschwand.
Okay.»Aslı«, sprach mich Burak an. Scheiße. Jetzt war der Moment doch wirklich gekommen. Manchmal wünschte man sich ehrlich, dass der Boden auftauen würde. »Ja, Burak?«
»Meltem meint oft, dass sie dich treffen will. Sie hat mich gezwungen, dich dazu zu bringen, mit ihr zu treffen. Du hast einen Fan.«
Ich? »Ist das dein ernst?«
»Ich war auch zuerst geschockt«, lachte er und ich schlug ihm gegen seinen Arm, als mir wieder der gestrige Abend einfiel und ich einen größeren Abstand zwischen uns brachte.Er lachte. »Das war ein Witz- also zur Hälfte, also was sagst du?«
»Mit Meltem würde ich mich immer treffen wollen.«
»Auch wenn ich dabei wäre?«
Seine Zähne blitzen bei seinem Lächeln auf.
»Dann müsste ich es mir noch einmal überlegen«, erwiderte ich, grinste und fing an, den Tisch abzudecken.Gleich darauf half mir Burak und Ecrin dann auch. Ich brauchte einen passenden Augenblick, um mit ihr zu reden. Bevor es Zeit für die anderen Angestellten wurde, bemerkte ich, dass in der Ferne Mahmud außerhalb des Restaurants saß. Er schmiss kleine Steinchen in die Weite. Ich mochte ihn nicht. Ich hatte ihn nie besonders gemocht, aber er war Meltems Bruder. Mit unsicheren Schritten lief ich auf ihn zu und setzte mich zu ihm. »Wie geht es Meltem?«, fragte ich, obwohl ich ja dasselbe auch Burak fragen könnte.
»Gut«, antwortete er kalt und sah mich dabei nicht an. »Es wird ihr aber schlecht gehen.«
»Wie meinst du das?«
»Ich frage mich«, ignorierte er meine Frage. »Wieso sich zwei Menschen scheiden können, die sich mal so geliebt haben.«
Er schüttelte den Kopf, keine Emotion war in seinem Gesicht zu erkennen. »Du kennst mich nicht, Aslı. Du kennst weder mich, noch meine Familie. Du kennst nur das, was wir zu sein scheinen.«
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Wiegenlied
Mystery / ThrillerAslı soll nicht in Schwierigkeiten geraten. Vor allem nicht mit der Polizei. Das erklärt ihre Tante ihr immer wieder aufs Neue. Als sie dann doch in welche gerät und vor einem Polizisten flieht, ist sie auf die Hilfe von Burak, der für sie nur ein...