Kapitel 26

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Wiegenlied
Kapitel 26

Ich spürte, wie sich meine Augen weiteten und ich versteinerte. Das war es nicht, was ich erwartet hatte. Daran hatte ich nicht gedacht. Nie.
Es verschlang mir die Sprache. Eine Barriere hatte sich so in meinem Gehirn aufgebaut, dass ich nicht nachdenken konnte.

Nur diese beiden Worte kamen mir immer wieder durch die Gedanken. Mörder. Vater.

Das erklärte das geschnittene Bild in seiner Wohnung. Er gehörte nicht mehr zu dieser Familie.
Ich zwang mich, meinen Mund zu öffnen. Burak sah mich immer noch gequält an und er erwartete eine Reaktion.

»Hat er es gestanden?«, piepste ich, da ich meine Stimme immer noch nicht ganz gefunden hatte. Es waren tausend Messerstiche, die mein Inneres durchbohrten, als er krampfhaft nickte.

Burak versuchte so zu tun, als würde es ihm nicht viel ausmachen und dabei versagte er kläglich. »Es war nicht nur eine Person, weißt du. Er hat es einfach zugegeben.«
Als ob die Barriere, die mich meiner Gedanken beraubte, einfach verschwunden wäre, herrschte nun ein Gedankenchaos in mir. Ich konnte meine Gedanken nicht ordnen, sie flogen hin und her, rissen noch mehr Schubladen in mir auf und forderten Antworten.

Ich schluckte schwer und riss mich, so gut es ging, zusammen. »Er ist im Gefängnis?«
»Nein«, brachte er heraus. »Er ist nicht dort, wo er es verdient zu sein.«
Er lachte verzweifelt auf. »Ist es komisch, dass ich so über meinen Vater reden kann?«

Es tat weh, ihn so fertig zu sehen. Für jedes Wort fühlte ich einen Hieb, als würde ich geohrfeigt werden.
»Ich bin doch auch nicht besser als er«, zischte er.

»Nein«, protestierte ich und bekam meine volle Stimme und mein volles Bewusstsein zurück. So konnte er nicht denken. Das war absurd. Es war banal, lächerlich. Was konnte man jemandem angetan haben, damit er so dachte?

Ich nahm all meinen Mut zusammen und redete. »Du glaubst doch nicht, dass ich dich jetzt mit anderen Augen sehe? Du bist immer noch Burak und du wirst immer dieser Burak bleiben, egal, wer deine Mutter, dein Vater, dein Bruder und sonst wer ist. Du kannst dich gar nicht mit denen vergleichen. Das kann niemand tun. Jeder hat das Recht, eigene Entscheidungen zu treffen und das tun wir jeden Tag. Wie willst du alle Entscheidungen gleich treffen, Burak? Dein Leben ähnelt seinem nicht. Dein Leben ist nicht so wie seins. Du bist nicht er. Und wenn das jemand behauptet, dann nur, um dich am Boden zu sehen. Willst du das zulassen? Diese Leute wollen einen nur gegen die Wand klatschen, um selbst ein besseres Licht auf sich zu werfen! Willst du denen diesen Wunsch erfüllen? Willst du?«

Er sah mich so an, als hätte er etwas ganz anderes erwartet. Seine Lippen bewegten sich etwas hoch und ein winziges Lächeln erschien. »Nein.«
»Wieso denkst du dann so?«

Er schwieg, blickte in seine Hände und blieb stur. Es quälte mich, dass er es noch nicht hundert Prozent einsah. Ich biss meine Zähne fest zusammen. »Burak, sieh mich an.«

Widerwillig blickte er in meine Augen.
»Burak. Stell dir vor, du kriegst heraus, dass mein Vater ein Mörder ist. Würdest du mich auch als Mörder sehen? Wäre ich dann anders in deinen Augen?«
»Das ist nicht dasselbe.«
»Wie, es ist nicht dasselbe? Ich bin ein Mensch. Du bist ein Mensch. Was unterscheidet uns? Mir macht es nichts aus, wer irgendwer von deinen Verwandten ist. Sonst hätte ich dich zuerst wegen deinem Cousin abgestempelt.«

Ich musste leicht grinsen uns brachte ihn auch dazu.
»Dir macht es also nichts aus?«, fragte er.
»Nein. Das versuche ich seit einer halben Stunde zu erklären. Und dir? Wie würdest du reagieren? Würdest du mich loslassen?«
»Nie im Leben.«
»Versprich es mir- nein- schwör es mir!«
»Versprochen. Ich schwöre es.«
Er umarmte mich dabei und ich fühlte mich dabei geborgen. Als hätte er mir dabei die Sorgen von meinen Schultern gefegt.

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