Kapitel 36

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Wiegenlied
Kapitel 36

Ich sah, wie kaputt meine Mutter aussah. Gar nicht mehr so, wie ich sie in Erinnerung hatte oder sie in irgendwelchen anderen Videos von Neslihan aussah. Sie wirkte so zerbrechlich und ihre Augen blickten so verzweifelt, dass ich am liebsten in das Video gesprungen und sie in dir Arme genommen hätte. Darüber hinaus sah sie abgemagert aus.

Ein kalter Schauer raste meinen Rücken entlang. Ich konnte und wollte das nicht glauben. Dennoch musste ich sehen, was darin passierte. Mein Blick huschte zur Tür und wandte sich dann wieder auf das Video. Mit zitternder Hand drehte ich die Lautstärke etwas niedriger und wagte es wieder, das Video fortzusetzen.

...
"»Neslihan«, wisperte meine Mutter. Zwischen ihren Augenbrauen hatte sich eine winzige Falte gebildet.
»Hör auf«, sagte Neslihan mit einer festen Stimme. »Ich will deine erbärmlichen Bitten nicht mehr ertragen müssen. Geh einfach. Das ist das Beste für uns alle.«
»Neslihan.«
Tränen kullerten die Wange meiner Mutter entlang. Ihr Haar war unordentlich nach hinten gebunden. Einzelne Strähnen standen ab. Ihre Augen waren rot und das Grün darin leuchtete. Ein kleiner Funke Hoffnung.

»Neslihan, Neslihan, Neslihan! Kannst du auch einmal etwas anderes sagen! Ich habe es satt, Behrem! Ich habe dich satt! Wir haben dich alle satt! Jetzt geh oder ich werde mich nicht beherrschen können. Du willst mich so nicht erleben.«

»Aber«, stotterte meine Mutter schluchzend. »Ich hab doch keinen außer dich.«

»Du hättest dein Vertrauen in andere stecken sollen.«
Kalt, abweisend. So kannte ich meine Tante nicht. Sie blickte meine Mutter so an, als sei sie der letzte Dreck. Neben ihr stand ein kleiner Koffer. Neslihan schmiss ihn zu meiner Mutter. »Keine Sorge, ich hab deinen Müll für dich schon eingepackt. Jetzt verschwinde und wag es ja nicht, noch einmal hierher zu kommen.«"
...

So endete das Video. Ich war immer noch geschockt vom Inhalt. Ich biss mir auf die Lippe und versuchte mich zu beruhigen, aber es wurde alles nur noch schlimmer in mir, als das Laptop sich herunterfuhr. Ich hätte darauf wetten können, dass es darauf eingestellt war, nach diesem Video herunter zu fahren.
Meine Finger glitten durch mein Haar. Ich war niemand, der nah am Wasser gebaut war, weinen tat ich sowieso selten, aber wenn es um meine Familie ging, war ich so zerbrechlich wie Glas.

Als das Laptop sich erfolgreich heruntergefahren hatte, startete ich es wieder. Es verlangte ein Passwort, dieses Mal war es aber ein anderes als vorher. Ich knirschte mir den Zähnen.
Buraks Worte kamen mir wieder in den Sinn, dass Kaan vielleicht nur hier war, um mich zu manipulieren und das hätte er auch fast geschafft. Nur wusste ich, dass er mir das zeigte, um mich zu verletzen. Um mich und Neslihan so sehr zu entzweien, dass ich keinem mehr vertrauen können würde.

Er konnte dieses Spiel gut spielen.
Ich auch.

Ich schnappte mir das Laptop und versteckte es, indem ich meine Jacke darum wickelte. Wenn ich es nicht starten konnte, würde ich es einfach mitnehmen. Dann nahm ich mein Armband, weswegen ich eigentlich hier gewesen war und verließ das Restaurant.

»Was hast du da drin so lange gemacht?«, fragte Burak belustigt, merkte kurz darauf aber, wie beschissen es mir ging.
»Aslı, was ist passiert?«, forschte er darauf und Ecrin tat dasselbe.
»Nichts. Ich will nach Hause. So schnell es geht. Bitte.«
Ich schaffte es nicht, sinnvolle Sätze zu bilden und legte meinen Kopf auf die Schulter von Ecrin.

Als wir da waren, stieg ich als erste aus, verabschiedete mich mit einem kurzem, »Tschüss!«, und lief dann schnurgerade in meine Wohnung. Ausnahmsweise war Neslihan zu Hause, in der Küche, um genau zu sein.

»Willkommen zurück, Aslı«, grinste sie mich an. Doch ihr glücklicher Ausdruck veränderte sich schlagartig, als als sie mir in die Augen sah. Meine Beine gaben nach und ich rutschte auf den Küchenboden. Sie hockte sich rasch zu mich und nahm mich in den Arm. »Was ist passiert? Aslı?«
»Du hast sie rausgeschmissen, du hast sie einfach fallen lassen, du hast sie gezwungen zu gehen!«
Neslihan löste sich geschockt von der Umarmung und sah mich schweigend an.

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