Kapitel 9

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Wiegenlied
Kapitel 09

»Ich sollte auch langsam gehen«, sagte ich und versuchte es möglichst beiläufig klingen zu lassen.
»Nein!«, protestierte Ecrin sofort. »Geh noch nicht!«
»Ich würd' ja gerne noch bleiben, aber Neslihan wartet sicher auf mich und macht sich Sorgen.«

Sie gab schließlich auf und wollte gehen. Es hatte perfekt gepasst, dass Burak in das Wohnzimmer gegangen war, um dort zu warten, denn von dort aus hätte er mich nicht gesehen, als ich an der Tür war, wäre da nicht die Tür offen gewesen.

Er stand sofort auf und sah mich mit einem undefinierbaren Blick an. Ich schloss die Tür sofort hinter mir zu und lief auf meine Wohnungstür zu. Schnell schloss ich sie auf und fühlte mich erst sicher, als ich Neslihans Stimme hörte. Sie hörte sich sehr glücklich an. »Endlich bist du da!«

Ich umarmte sie einfach ganz fest, ohne etwas zu erwidern und küsste sie dann auf die Wange.
»Aslı hat gute Laune?«, sprach sie eher zu sich selbst und sah mich mit einem ungläubigem Ausdruck an. »Was ist passiert?«
»Nichts, darf ich nicht glücklich sein?«
»Du darfst. Aber du tust es nie. Nie.«
»Es gibt immer ein erstes mal!«

Ich wollte gerade in die Küche, da grinste sie mir hinterher. »Etwa ein Junge?«
»Nein!«
»Hahaha, du klingst ja wie ein Kindergartenkind. Baah! Jungs!«
Zumindest hatte sie ihren Spaß. »Aslı, sag schon, wie heißt er?«
»Es gibt keine-eeeeen«, zog ich das Wort lang und begann Sachen rauszuholen, um zu kochen.

»Früher oder später kriege ich es eh heraus.«
Sie streckte ihre Zunge heraus und betrat beleidigt das Wohnzimmer. Eins wusste ich. Neslihan würde nie erwachsen werden, egal wie sehr sie es versuchte.

Ich kochte schnell noch und servierte alles auf den Tisch. »Essen ist fertig!«
»Ich schmeiß nur noch kurz den Müll weg!«
Solange lief ich in mein Zimmer, zog mir eine Jogginghose und ein Top an. Mein Haar band ich ohne Mühe zu einem Dutt und hörte, wie sich das Schloss drehte.
»Ach, wirklich?«, fragte sie und lachte. Sprach sie mit mir? Ich legte kurz noch meine Sachen in auf die Seite und ging dann zur Küche.

Wieso? Wieso hatte ich nicht gesagt, dass ich selbst den Müll wegschmeißen wollte? Dann müsste dieser Typ nicht vor mir sitzen und mich verschmitzt angrinsen.

»Du hast mir nie erzählt-«, fing Neslihan an, doch ich wartete nicht darauf, dass sie ihren Satz beendete. »Raus!«, rief ich wütend und merkte, dass er es sich weiter bequem machte. »Wieso?«
»Aslı, das ist kein Problem«, meinte Neslihan sofort.
»Doch ist es, Burak! Raus!«
»Du heißt Burak?«, setzte Neslihan wieder an.

Ich ließ sie wie eben nicht zu ende reden. »Was wartest du? Verpiss dich von hier!«
»Als dich die Polizei verfolgt hat und du in meinen Wagen gestiegen bist, warst du ja viel ruhiger.«
Neslihan stieß einen Laut von sich heraus.

»Burak, ich reiß dir gleich deine hässliche Fresse aus dem Gesicht, wenn du hier nicht verschwindest«, zischte ich. Er hatte es tatsächlich gesagt.

»Stopp!«, rief Neslihan. Sie knallte ihre Faust gegen den Tisch und ich zuckte kurz zusammen. Das würde nicht gut enden. »Aslı, willst du mir etwas erzählen?«
»Nein. Ich möchte nur, dass dieser Arsch von hier verschwindet.«
»Rede nicht so! So hat dich keiner erzogen.«
»Ja! Weil mich sowieso niemand erzogen hat!«
Es kam mir so über die Lippen und ich musste erst zweimal blinzeln, bis ich es richtig realisierte.

Ich hatte völlig vergessen, dass Burak bei uns war. Dieser arroganter Arschloch, der sich nicht entscheiden konnte, ob er mich in Schwierigkeiten bringen oder mir helfen sollte.

Eine Stille entstand, die mich umbrachte. Ich musste mitansehen, wie die Augen von Neslihan glasig wurden. »Was meint dann Burak?«
Sie flüsterte es bloß.

»Es ist unwichtig. Burak wollte gerade gehen.«
Meine Worte klangen so hart. Ich konnte nichts dagegen tun. Ich war wie erstarrt und brachte meinen Sätze nur schwer heraus. Sie nickte und verließ den Raum. Verdammt.

»Komm«, zischte ich und packte Burak am Arm. Er wehrte sich nicht, sondern kam einfach still mit mir mit, bis wir vor dem Apartment warem, wo er stoppte und mir in die Augen sah. »Dass es so kommt, wollte ich nicht.«
»Hör auf! Hör auf, mir irgendetwas zu sagen! Ich will dich weder sehen, noch hören!«
»Aslı-«
»Verpiss dich einfach! Wie kannst du es wagen, alles zu zerstören und dann auch noch reden zu wollen? Verpiss dich!«

Ich schlug ihm mit offener Hand gegen die Brust und beinahe wäre ich danach runtergefallen, weil meine Knie nachgaben, doch er hielt mich an meinen Handgelenken fest. Ich versuchte mich wieder sofort aufzurichten, fand den festen Boden auf meinen Füßen und riss meine Arme von ihm los. »Geh!«

Ich musste ständig an Neslihan denken. Es ging ihr sowieso nie gut. Dass sie dann auch noch so emotional war, machte alles schlimmer.

»Es war keine Absicht«, wollte Burak immer noch erklären.
»Was dachtest du denn? Dass du einfach mal hereinspazierst? Dass du Polizisten erwähnst, dass du mir nicht zuhörst, dass du dich wieder einmal so egoistisch verhalten hast, wie ich es einem Kleinkind nicht zutrauen könnte?«

Er starrte mich nur an. »Ich wollte mit dir reden.«
»Du kannst so was nicht! Wenn du redest, dann vernichtest du nur alles! Jetzt geh!«
Er ignorierte meine Worte. »Willst du gar nicht wissen, warum?«

»Nein! Du interessierst mich nicht! Außerdem musst du mich auch nie mehr wiedersehen, okay? Ich kündige nämlich. Das ist es doch, was du wolltest.«

Ohne ein weiteres Wort marschierte ich in meine Wohnung. Ich knallte die Tür fest hinter mir zu und merkte sofort, dass Neslihan sich eingeschlossen hatte. Mit dem Gedanken, dass sie vielleicht später rauskommen würde, räumte ich erst einmal den Küchentisch auf. Das Essen auf den Tellern war kalt geworden und mein Appetit war mir auch entgangen.

Später klopfte ich an ihrer Tür und bat sie rauszukommen. Ich entschuldigte mich zig mal und versuchte sie wieder zu trösten, doch wie es schien, hörte sie mir nicht zu oder sie hielt eben stand.
Deshalb saß ich lange noch vor ihrer Tür, bis ich letztendlich mich in mein Zimmer verkroch und einschlief.

Der nächste Morgen war ein Samstag. Ich hatte Ecrin noch nichts über die Kündigung erzählt, die ich heute einreichen wollte und musste daran denken, wie sie reagieren würde. Als wir im Restaurant war, welches heute nur kurz offen hatte, lief ich schnurgeraden den Weg zum Büro des Chefs.

Ich klopfte kurz.
»Herein.«
Die Tür öffnete ich und betrat den Raum.
»Guten Morgen, Cesur.«
»Guten Morgen, Aslı. Gibt es ein Problem?«

Nach diesem Treffen keine mehr. Ohne zu antworten gab ich ihm den Brief in die Hand. Das sollte schon alles erklären. Er sah es sich an und riss dann überrascht die Augen auf. »Du willst kündigen?«
Nein. Es steht nur zur Verzierung da.

Ich nickte kurz und da stand Cesur von seinem Stuhl auf und sah mich mit einem traurigen Blick an. »Ist es wegen mir?«
Muss man das noch fragen? »Ich denke, dieser Job ist nichts für mich.«
»Du lügst. Es ist wegen mir.«
»Nein.« -nicht nur wegen dir.

»Aslı, du bist eine sehr gute Angstelltin. Du hat dich so schnell an alles gewöhnt und hast die Sachen schneller gelernt als so manch anderer!«
Mit Schmeicheleien ändert sich meine Meinung auch nicht.
»Denk noch einmal darüber nach, bitte. Du scheinst ein sehr nettes Mädchen zu sein. Ich verspreche dir, dass es auch keine unangebrachten Fragen gibt, okay?«
»Es-«
»-überleg es dir. Antworte nicht sofort. Man kriegt einen Job nicht in zwei Stunden. Es braucht lange. Ich hatte dich hier nur aufgenommen, weil Ecrin so viel Gutes über dich erzählt hatte und was sie sagte, stimmt. Du bist wirklich talentiert.«

Ich wollte ihm nicht in die Augen sehen, deshalb sah ich wahllos auf irgendwelche Sachen, bis mir erst das Bild auf dem Schreibtisch auffiel. Ich nahm es ohne zu fragen in die Hand und strich darüber. Es war eine Familie darauf. Eine große Familie. Drei erwachsene Männer, drei Frauen und zwei Kinder. Das eine Kind war ein Junge und das andere ein Mädchen.

»Der Junge ist Burak«, erklärte Cesur mir mit weicher stimme. Ich konnte meine Augen nicht vom Bild nehmen. Ja, ja das war er. Daran war kein Zweifel. Ich fühlte mich komisch, als ich dieses Bild in der Hand hatte, es war, als müsste ich weinen, aber keine einzige Träne kam und Worte sprudelten aus meinem Mund, ohne dass ich sie wirklich hatte sagen wollen.

»Ich hab's mir anders überlegt. Ich kündige nicht.«

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